Gehetzt - Thriller
sich nach Di ane um. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte. Diane benutzte die Worte als Mantra! Sie klammerte sich am Stamm fest und wartete, auf den Ast rutschen zu können, sobald Gail sprang. »Hals und Beinbruch«, flüsterte sie schließlich.
In einer einzigen Bewegung ließ Gail den Ast über sich los, ging in die Hocke und sprang. Sie sah den Nato-Draht unter sich, riss die Arme nach vorne und stürzte in einem Hechtsprung zu Boden. Der Schock des Aufpralls raubte ihr beinahe das Bewusstsein. Sie rollte durch den Dreck und blieb ausgestreckt auf dem Rücken liegen. Gail öffnete die Augen und sah Diane, die ihr entgegensegelte und dabei wild mit den Beinen und Armen fuchtelte, als würde sie in der Luft laufen. Diane landete auf allen vieren, rollte gekonnt in einer Art seitlichem Purzelbaum ab, der die Wucht des Aufpralls abfing, und sprang so fort auf. Sie hielt Gail eine Hand hin, um sie hochzuziehen.
»Beweg dich, los!« Diane packte Gail und zerrte sie hinter sich her. Sie rannten, Diane schwer atmend, aber kraftvoll, Gail keuchend und nach Luft japsend.
Gail fiel hinter Diane zurück, versuchte sofort, wieder mit ihr Schritt zu halten, konzentrierte sich auf ihr Atmen. Sie spürte ihr Herz trommeln. Lass dich nicht von deiner Angst packen. Beruhige dich. Lauf einfach. Du kannst laufen. Atme. Lauf. Atme.
Sie hörte das Geräusch ihrer Schritte, die den Hang Richtung Wald hinunterrasten. Schon hundert Meter, also schon zweihundert Meter Abstand zu dem bedrohlichen roten Ziegelsteinbau des Gefängniskomplexes. Es lief gut. Sie rannte, indem sie den abschüssigen Hang ausnutzte, längere Schritte
machte und sich von ihrer eigenen Schwerkraft nach unten ziehen ließ, jedoch sorgfältig darauf achtete, nicht zu stolpern.
Diane blickte über ihre Schulter und sah Gail direkt hinter sich, und, in zwischen in der Ferne, das riesige, bedrohliche Gebäude und den gelblichen Schein der Strahler über dem Nato-Draht.
»Juhu!«, rief Diane. »Scheiß auf euch alle!«
»Lauf einfach nur!«, zischte Gail ihr zu. »Halt den Mund und lauf!« Sie fühlte etwas Warmes auf ihrem Bein, aber wen kümmerte das schon? Es war egal, Hauptsache sie rannte. Und rannte. Weg von dem Elend. Der Einsamkeit. Der Absurdität. Weg vom Tod, dem Zusteuern auf den Tod. Sie rannte. Sie spürte irgendetwas Warmes über dem Rand ihres Stiefels. Sie wusste, was es war: tropfendes Blut. Egal, lass es tropfen.
Dann erreichten sie den Wald. Ab jetzt ging es bergauf. Sie bahnten sich ihren Weg zwischen dicken Brombeersträuchern, grüner, wuchernder Vegetation, dicken, massiven Bäumen, dünnen, jungen Bäumen. Gail übernahm die Führung. Sie drangen immer tiefer in die Dunkelheit und kämpften sich den Berg hinauf, mehr tastend als sehend. Seit etwa fünf Minuten waren sie im Wald, völlig blind in der Dunkelheit. Gail nahm ihre Taschenlampe heraus. Ihr winziger Strahl schnitt durchs Gehölz, er erschien ihnen hell wie Flutlicht. Sie bahnte sich weiter einen Weg und fand einen Stock, den sie als Machete benutzte, indem sie damit dünnere Äste aus dem Weg schlug. Aber sie versuchte, den Stock möglichst wenig einzusetzen. Je weniger Spuren sie hinterließen, umso besser.
Als sie spürte, dass ihre Socke nass wurde, hielt sie an und richtete den Strahl auf ihr Bein. Das sah nicht gut aus. Der Schnitt war beinahe acht Zentimeter lang und ziemlich tief. Diane bückte sich keuchend, um die Wunde in Augenschein zu nehmen.
»Ich hoffe, du hast dein Nähset mitgenommen.« Sie stieß die Worte hechelnd hervor.
Gail nickte, ihre eigene Brust hob sich, während sie gierig Luft einsog. Diane riss einen Streifen von ihrem T-Shirt ab und wickelte ihn vorsichtig um Gails Bein.
»Das sollte eine Wei le hal ten«, sagte sie. »Und jetzt? Wo lang?«
»Bergauf. Bis wir auf eine alte Holzabfuhrpiste oder einen Jägerpfad kommen. Der führt uns dann irgendwohin.«
»Woher willst du wissen, dass wir auf einen Weg kommen?«
»Weil wir früher oder später einen kreuzen müssen. Sie verlaufen in diesen Hügeln überall kreuz und quer.«
»Woher weißt du das?«
»Hab’ ich gelesen. Vergiss nicht, ich habe in der Bibliothek gearbeitet.«
Gail hielt die Lampe wieder vor sich und kämpfte sich weiter durchs Dickicht. Sie schwitzte und war bereits erschöpft, doch sie beruhigte sich allmählich und gewann nach dem irrsinnigen Spurt weg vom Gefängnis ihre Entschlossenheit zurück. Sie sah auf ihre Uhr. Sie hatten noch fast eine Stunde bis zum
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