Gehetzt - Thriller
die Lappen ihre Sohlen bedeckten. Zwei der Strippen warf sie Gail hin.
»Hier, zieh die über deine Schuhe!«, forderte sie sie auf.
Gail befolgte Dianes Anweisung, allerdings langsam, als ob sie Dianes Beweggründen für dieses Ansinnen nicht recht traute. Diane nahm die schwarze Sprühflasche vom Tisch und spritzte etwas Flüssigkeit auf die Lappen unter ihren Sohlen.
»Halt mir mal deine Füße hin!«, bat sie Gail. Gail folgte der Aufforderung, und Diane sprühte die Lappen unter ihren Sohlen ebenfalls ein.
»Oh, Himmel!«, stöhnte Gail, »das stinkt ja wie ein verfaulter, mit billigem Rasierwasser eingesprühter Kohl. Was ist das für ein Zeug?«
»Waschbärenurin«, erwiderte Diane. »Ein Lockmittel. Wird von Jägern benutzt. Vielleicht führt es die Hunde in die Irre.« Sie richtete den Strahl der Lampe auf die Flasche und musterte das Etikett.
»Nur für den Jagdgebrauch«, las sie vor. »Nicht auf den Körper oder die Kleidung auftragen, sonst droht Gefahr, angefallen zu werden.« Sie schob die Sprühflasche in ihre Hosentasche und stand einen Moment einfach so da.
»Diane?« Gails Stimme war wieder ruhig.
Diane holte tief Luft. »Los! Ziehen wir weiter, solange diese Pisse noch nass ist!«
Auf dem Weg nach draußen nahm Gail sich eine Tarnjacke von einem der Wandhaken, zog vorsichtig die Tür hinter sich zu und lief zu Diane, die beim Bachlauf wartete.
»Der Mond zieht die gleiche Bahn wie die Sonne, stimmt’s?« Diane starrte den Halbmond an, der durch das über dem Bach offene Blätterdach zu ihnen herabschien.
»Wenn du ei ner der Cops wärst, die uns ver folgen«, sagte Gail, »was würdest du vermuten, in welche Richtung wir fliehen?«
»Richtung New York City natürlich«, erwiderte Diane. »Aber beim zweiten Nachdenken käme mir vielleicht in den Sinn, dass du dir denkst, dass ich dich in dieser Richtung vermute und du deshalb genau in die entgegensetzte Richtung abhaust, um mich abzuschütteln. In dem Fall würde ich davon ausgehen, dass du Richtung Norden unterwegs bist. Was schwebt dir vor?«
»Die Stadt natürlich. Aber auf einem Umweg. Lass uns erst Richtung Norden weiterziehen.«
»Einverstanden«, sagte Diane. »Wo ist denn Norden?«
»Der Mond steigt noch, das ist dort also Osten.«
»Gut. Und wo ist dann Norden?«
»Weißt du das etwa nicht?«
»Natürlich weiß ich es«, erwiderte Diane. »Ich kann Karten lesen, mir landschaftliche Besonderheiten als Orientierungspunkte merken und all diesen Scheiß. Ich will einfach nur wissen, ob du weißt, wo Norden ist.«
»Das ist ja wohl ziem lich scheiß egal, so lange es eine von uns beiden weiß.«
»Was ist, wenn wir uns verlieren? Oder uns aus irgendeinem Grund trennen müssen?«
»Also wirklich, Diane«, entgegnete Gail, jetzt mehr verzweifelt
als erschöpft, »im Moment bin ich schlicht und einfach unfähig, so weit in die Zukunft zu denken.«
Gail fiel in einen leichten Laufschritt. Sie folgten dem Bachufer stromaufwärts, Richtung Norden. Doch ziemlich bald überholte Diane sie, übernahm die Führung und legte noch einen Zahn zu. Sie rannten wieder. Rannten und rannten. Gail versuchte, an den Bach zu denken, an die Ruhe des Wassers, das neben ihnen durch den Wald floss. Sie passte ihre Atmung ihren Schritten an, wie sie es so viele Jahre bei ihren Runden um den Gefängnishof getan hatte. Es war jetzt eine mentale Sache. Es musste aus ihrem Kopf kommen. Sie musste ih ren Körper durch ihre Willenskraft dazu bringen weiterzulaufen, obwohl es sie nach nichts mehr verlangte als danach, sich hinzulegen. Nicht mehr zu rennen. Sich auszuruhen.
Sie rannten. Diane ließ vor sich den winzigen Lichtstrahl über den Boden huschen und vergewisserte sich hin und wieder mit einem Blick über die Schulter, dass Gail mitkam.
Doch als der Mond seinen Zenit erreichte, half auch kein Wille mehr. Gails Lungen machten schlapp, und sie hielt an, beugte sich vor und stützte keuchend die Hände auf die Knie. Diane blieb ebenfalls stehen, wandte sich um, fasste Gail am Arm und führte sie ans Bachufer. Ebenfalls zu schwer keuchend, um etwas sagen zu können, bedeutete sie Gail zu bleiben, wo sie war. Dann entfernte sie sich etwa zwanzig Meter von dem Bach, streifte die mit Lockmittel getränkten Lappen von ihren Stiefeln und rannte in einem großen Kreis um eine Gruppe weißer Birken, die in der Nacht geisterhaft schimmerten. Sie drehte die Runde dreimal, machte hin und wieder einen Abstecher und kehrte dann zurück, blieb genau an der
Weitere Kostenlose Bücher