Gehetzt - Thriller
Gail erkannte in Diane beinahe sich selbst wieder, die unbekümmerte - oder musste es heißen die unvorsichtige? - Gail von vor all den Jahren. Sie war während ihres zweiten Studienjahres an der Universität von Oklahoma durch den ganzen Südwesten getrampt. Sie hatte sogar an ei nem Poesie-Workshop bei Professor Matlin teilgenommen, dessen Lieblingsthema, wie sich herausgestellt hatte, ›die Wut der Südstaatenfrau‹ gewesen war. Es war in etwa darum gegangen, dass die Südstaaten-Schönheiten ziem lich angepisst waren, auf das Podest gestellt und mit Politesse - oder zumindest Höflichkeit - behandelt zu werden und dabei die ganze Zeit nicht im Geringsten als vollständige Wesen behandelt zu werden, denen solche Kleinigkeiten wie Rechte, Freiheit und ein voll funktionierendes Gehirn zugebilligt wurden. Konnten nicht einmal Daddys Vermögen erben, die dummen Mädels.
Was dachte sie denn da? Sie war nie unbekümmert gewesen. Sie war von der ernsthaften Sorte gewesen und hatte das ganze Semester damit verbracht zu versuchen, sich in ein Mädchen aus dem Süden hineinzuversetzen und aus dieser Perspektive ein paar ziemlich furchtbare Verse über diese Gattung ›Südstaatenfrau‹ zu Papier zu bringen. Während sich ihr die Kunst des richtigen Zeilenwechsels und der Sinn für die feinen Nuancen der Sprache entzogen hatten - sie hatte ihre Gedichte erbärmlich, manchmal sogar abgedroschen gefunden
-, hatte sie den Part mit der Wut perfekt hingekriegt. So vieles war den Bach runtergegangen: Reagan war ins Weiße Haus eingezogen und hatte, sofort nachdem er den Amtseid geschworen hatte, die iranischen Geiseln befreit; die Ölbarone hatten wieder fest im Sattel gesessen; El Salvador hatte die Nachrichtensendungen beherrscht; AIDS war bekannt geworden; Bob Marley war gestorben (oder umgebracht worden, wer wusste das schon?). Gail war auf dem Laufenden gewesen. Was Amerikas Untaten anging, hatte sie sich ausgekannt, und sie war bereit gewesen, die Welt zu verändern.
Das Geräusch eines sehr großen, sehr plötzlich zum Stehen kommenden Lasters, dessen Bremsen aufkreischten wie das Tröten gleichzeitig geblasener Trompeten und Tuben, riss Gail aus ihrer Träumerei. Sie blickte auf und sah einen riesigen Kipplaster an den Straßenrand fahren. Auf der grünen Führerhaustür stand in großer gelber Schrift Sie rufen an, wir transportieren’s dann. Diane reckte dem Fahrer enthusiastisch zwei aufgerichtete Daumen entgegen und machte vor Freude förmlich einen Luftsprung. Über die Schulter sah sie sich zu Gail um und bedeutete ihr zu kommen.
Der Lastwagen kam zum Stehen, und die Beifahrertür schwang auf.
»Wohin wollen Sie?«
»Wohin wollen Sie denn?«, entgegnete Diane wie aus der Pistole geschossen.
»New York City.«
»Genau dahin wollen wir auch.« Sie lächelte den Fahrer an. Er nickte.
»Wird ein bisschen eng, Mädels, aber es wird schon irgendwie gehen.« Für Gail sah der Fahrer aus wie ein Altachtundsechziger, für den die Zeit stehen geblieben war. Er hatte langes, zotteliges Haar, einen Bart, ein Stirnband und trug ein T-Shirt und Levi’s. Sie erinnerte sich an die Hippies, die während
ihrer Zeit auf der Übergangsschule im Stadtpark herumgehangen hatten, mit ihren Armee-Schlaghosen und ihren aus Perlen und Lederbändchen geflochtenen Stirnbändern, Halsketten und Armbändern. Überall Friedenssymbole und Batik. Sie erinnerte sich auch an die halb ängstlichen, halb faszinierten Blicke ihrer Mutter, wenn sie am Park vorbeigefahren waren und die Hippies den taubenblauen Cadillac angelächelt hatten. Der Lastwagenfahrer hatte das gleiche Kifferlächeln, das die Hippies immer gehabt hatten, und die glei chen freundlichen Augen. Gail sah hinauf in das enge Führerhaus, trat einen Schritt zurück und ließ Diane den Vortritt. Diane kletterte auf den Beifahrersitz, Gail quetschte sich neben sie. Der Sitz war nicht für zwei gedacht, im Grunde war er nicht einmal breit ge nug für ei nen einzelnen beleibteren Beifahrer. Diane saß halb auf Gails Schoß, als Gail die Beifahrertür zuknallte und sich dann dagegenpresste, da mit sie so viel Platz wie möglich hatten.
»Ich bin Mike«, sagte der Fahrer. »Geht’s denn?«
»Kein Problem«, erwiderte Diane. »Wir sind Enge gewohnt.« Gail stieß sie in die Seite. »Haben Sie schon mal einen Schlangenmenschen gesehen?« Diane plapperte weiter, als hätte sie Gails Stoß nicht bemerkt. »Heute kriegt man ja nur noch selten einen zu Gesicht, aber ich habe als Kind
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