Gehetzt - Thriller
einen Unterschied. Ich musste zum Beispiel mal ein Pferd erschießen, das einer Frau frontal vors Auto gelaufen und durch die Windschutzscheibe gekracht war, etwa um die gleiche Zeit wie jetzt, ganz früh morgens. Die Innereien des armen Tiers waren überall verstreut, sein Kopf lag auf dem Lenk rad, aber es lebte noch und litt Höllenqualen, das kann ich dir sagen. Die Frau war schon auf dem Weg ins Krankenhaus, und der einzige noch anwesende Verkehrspolizist stand ein fach nur da, starrte den Trümmerhaufen an und winkte die Autos vorbei. Als ich gesehen habe, was los war, habe ich das Pferd erschossen. Und es war mir dankbar, da bin ich sicher. Ich habe es von seinem Leid erlöst. Hoffentlich wusste es auch zu schätzen, was für einen verdammten Berg Papierkram ich erledigen musste, weil ich mei ne Dienstwaffe abgefeuert hatte. Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb der Verkehrspolizist gewartet und den Gnadenschuss mir überlassen hat.«
»Es war ein Pferd. Was wäre ge wesen, wenn die Fahrerin gelitten hätte? Hättest du ihr auch den Gnadenschuss verpasst?«
»Natürlich nicht. Sie hatte sich ja nur einen Zahn ausgeschlagen, und immerhin wäre ich wegen Mordes angeklagt worden. Aber wenn ich gewusst hätte, dass sie es nicht mehr lange machen würde und einen langsamen, qualvollen Tod hätte sterben müssen bis …«
Gail starrte Diane schockiert an, dann sah sie das verschmitzte Grinsen und begriff, dass Diane sie auf den Arm nahm.
»Sehr witzig!«
»Du hast ja recht, und ich stim me dir voll und ganz zu: Du sollst nicht töten. Aber was willst du tun, wenn es drauf ankommt? Einfach nur dasitzen und dich kaltmachen lassen, ohne dich zu wehren? Vielleicht wenn du Gandhi bist. Aber ich bin nicht Gandhi. Wenn mich jemand angreift, schlage ich zurück. Ich habe sogar mal daran gedacht, in der Mordkommission zu arbeiten.«
»Warum jemand freiwillig Psychopathen jagt und um Leichen herumschnüffelt, ist mir ein absolutes Rätsel!«
»Irgendjemand muss es doch machen. Und überhaupt, ich denke, es ist wahnsinnig interessant. Wahrscheinlich habe ich aber auch einfach den Wunsch, Gerechtigkeit zu üben.«
»Ah, Gerechtigkeit! Wie idealistisch! Warst du etwa einer dieser Bullen, die glauben, Gott stünde auf ihrer Seite?«
»Wohl kaum. Die Mistkerle, die mich gelinkt haben, haben ja schon in Anspruch genommen, Gott auf ihrer Seite zu haben.« Diane grinste oder zog eine Grimasse oder irgendetwas dazwischen, Gail war sich nicht sicher.
»Der Bezirksstaatsanwalt predigt sogar jeden vierten Sonntag in der First Baptist Church. Ich hab’ ihn mir ein- oder zweimal angehört. Nicht dass ich eine Kirchgängerin wäre, aber mir hatte jemand von ihm erzählt, und ich war neugierig. Hölle und Fegefeuer, und erst seine Vortragsweise! Ein guter Prediger, aber ein furchtbarer Heuchler.«
Gail ging schweigend weiter; Dianes plötzliche Vehemenz machte sie nervös. Vor Schlafmangel war sie ganz benommen. Sie mussten einen Ort finden, an dem sie sich ausruhen konnten, und zwar bald.
Und dann ging die Sonne auf. Sie kroch in der Ferne über den Gebirgskamm, und Gail wurde von einem Gefühl überwältigt, das sie nicht genau benennen konnte, das ihre Sorgen jedoch dahinschwinden ließ und sie mit etwas erfüllte, das sie
seit einer Ewigkeit nicht empfunden hatte. Etwas wie Freude vielleicht. Es war so lange her, seit sie das letzte Mal etwas so Positives empfunden hatte. Freude. Sie war nicht mehr irgendwo in einem grauen Betonkäfig und wünschte, sie könnte den ganzen Tag verschlafen. Freude. Darüber, dass sie einfach nur durch die Landschaft ging, dass sie existierte, atmete, mit den Augen blinzelte und endlich wieder einmal die überwältigende Schönheit des Sonnenaufgangs bewundern konnte.
Sie waren an ein paar ver einzelten, ärmlichen Landhäusern vorbeigekommen und nä herten sich jetzt ei ner heruntergekommenen Autowerkstatt. Diane sah Gail an, beschleunigte ihren Schritt und führte sie hinter die Werkstatt, während sie zugleich aufmerksam die Umgebung absuchte. Keine Menschenseele. Diane ging zur Hintertür, bewegte sich leise und zielstrebig. Gail blieb stehen und sah zu, wie Diane den Knauf der Hintertür um fass te, da ran rüttelte und dann gegen das Holz der Tür drückte, als wolle sie prüfen, wie stabil sie war.
»Abgeschlossen.« Diane ging einen Schritt zurück, sah sich kurz um und trat kräftig zu; ihr Stiefel landete genau neben dem Knauf. Das Schloss zersplitterte, und die Tür flog
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