Gehetzt
Laufschritt, die Maschinenpistole hielt er vor der Brust. Der Mann war hinter einer Mauer verschwunden. Als Barnes über die Schutthalde stieg, sah er ihn in einer anderen Ruine verschwinden, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.
Vorsichtig näherte sich Barnes der Ruine, die Maschinenpistole schußbereit in der Hand. Der Anblick, der sich ihm bot, als er um die Mauer spähte, überraschte ihn.
Vor dem Haus führte eine Straße entlang, die jemand von Schutt und Trümmern geräumt hatte. Weiter unterhalb wartete ein staubbedeckter alter Bus. Vor ihm standen vier Leute, die sich offenbar stritten. In dem Bus hätten keine Fahrgäste mehr Platz gefunden, denn er war gerammelt voll mit den unterschiedlichsten Gegenständen. Durch die geöffnete Tür sah Barnes, daß sie sich überall stapelten, auf dem Boden, auf den Sitzen – Korbflaschen mit Wein, Stoff, vielleicht Vorhänge oder Bettwäsche, ein Silbertablett mit ziselierten Griffen, ein Sessel mit brokatbezogenem Polster, ein altes Jagdgewehr mit Silberbeschlägen auf dem Kolben und viele andere Dinge mehr.
Das Quartett vor dem Bus wirkte ebenso seltsam wie die Gemischtwarenkollektion in dem Fahrzeug. Das Knochengesicht, mit dem Barnes auf dem Platz gesprochen hatte, stand etwas abseits und steuerte nur gelegentlich ein Wort zu der Diskussion der drei anderen bei, die in einem kleinen Kreis zusammenstanden und miteinander redeten. Ein kleiner, untersetzter Mann mit dunkler Haut und einem gewaltigen schwarzen Schnurrbart schien der Anführer zu sein.
Er trug einen zerknitterten Anzug und einen dunklen Schlapphut. Um den Hals hatte er sich ein kariertes Taschentuch gebunden. Barnes mußte unwillkürlich an den Korsen denken, den er bei dem Zwischenstop seines Truppentransportes auf der Fahrt von Indien zurück nach Hause in einer Bar in Port Said kennengelernt hatte. Die zwei anderen Männer waren hingegen groß und sehr dünn. Beide schienen vor dem Dunkelhäutigen zurückzustecken, als die Diskussion hitziger wurde. Sie trugen blaue Köperjacken und - hosen und auf dem Kopf schwarze Baskenmützen.
Barnes trat aus seiner Deckung hinter der Mauer hervor und richtete die Maschinenpistole auf die Gruppe. Mit barscher Stimme fragte er: »Was, zum Teufel, geht hier vor?«
Die drei Männer fuhren herum und erstarrten mitten in der Bewegung. Der Korse erholte sich als erster von seinem Schrecken. Er trat ein paar Schritte vor und sagte lächelnd ein paar Worte auf französisch.
»Reden Sie Englisch«, bellte Barnes.
Der Korse tat so, als verstünde er kein Wort. Barnes hob die Maschinenpistole. »Hebt die Hände, oder ich schieße euch in Stücke.«
Der Korse riß die Hände hoch und rief rasch ein paar Worte über die Schulter. Sofort fuhren noch sechs Hände nach oben.
»Wie schön, daß Sie meine Sprache wenigstens verstehen«, bemerkte Barnes ironisch. »Wer sind Sie? Raus mit der Sprache – ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf.«
»Ich heiße Lebrun, Sir, Joseph Lebrun. Ich komme aus Le Cateau und bin Pelzhändler.«
»Wie heißt dieser Ort?«
»Beaucaire, Sir. Sie gehören zur britischen Armee?«
»Zur Vorhut. Die Straße, die von Westen auf die Stadt zuläuft, wohin führt die?«
»Nach Cambrai. Und dann weiter nach Arras.«
Großer Gott, überlegte Barnes, wir sind viel weiter südlich, als ich dachte. Er trat ein paar Schritte zurück, weil Lebrun Anstalten machte, sich ihm zu nähern. Seine Stimme klang kalt.
»Bleiben Sie, wo Sie sind, Lebrun. Wo stehen die Deutschen?«
»Sie sind verschwunden.« Lebrun warf Barnes einen erstaunten Blick zu. »Sie sind schon vor einigen Tagen hier durchgekommen, nach der ersten Bombardierung…«
»Sie meinen Soldaten auf Lastwagen?«
»Ganz im Gegenteil. Ich spreche von einer langen Panzerkolonne mit riesigen Kanonen.«
»Und keine Soldaten auf Lastwagen?« fragte Barnes erneut.
»Nein, ich habe keine gesehen.«
Der Franzose starrte die Maschinenpistole an und runzelte die Stirn.
»Das ist doch eine deutsche Waffe, oder?«
Barnes war gewarnt. ›Der Bursche ist nicht auf den Kopf gefallen‹, dachte er und hielt die Mündung der Waffe unverändert auf den Bauch seines Gegenübers gerichtet. Er überlegte einen Moment und fuhr dann mit seinem Kreuzverhör fort.
»Wie lange ist das her? Sie sagten, vor einigen Tagen – vor wie vielen Tagen genau?«
»Vor sechs oder sieben Tagen. Selbst haben wir sie nicht gesehen, denn wir leben nicht hier. Man hat es uns erzählt.«
Der Mann schwieg
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