Geisterlicht: Roman (German Edition)
zurückzukehren.
Während er an Fionas Seite die Halle in Richtung Küche durchquerte, dachte er an die lange, dunkle Sturmnacht, die vor ihnen lag. Durch den unfreiwilligen gemeinsamen Ausflug in den Keller hatte sich alles geändert. Dort unten waren sie nicht vom Begehren, von der Sehnsucht, von etwas, das außerhalb ihres Willens zu liegen schien, überwältigt worden. Sie hatten sich angesehen, sie hatten sich Zeit gelassen – und es beide gewollt. Aidan war sich ganz sicher, dass auch Fiona diesen Kuss gewollt hatte. Mit all ihrer Leidenschaft, die er so deutlich gespürt und auf ihren Lippen geschmeckt hatte.
Jetzt aber wollte er mehr. Er wollte sie. Mit Haut und Haaren, mit Herz und Verstand. Obwohl tief in seinem Inneren immer noch die Angst vor dem schwelte, was kommen würde, wenn auf diese erste Nacht eine zweite und eine dritte folgen würde.
Doch plötzlich war er bereit, das Risiko einzugehen.
Fünfzehntes Kapitel
In einer Schublade des riesigen Küchenschranks aus Eichenholz fanden sie ein Dutzend Kerzen, und Aidan verteilte sie in der Küche, die nun in sanftes goldenes Licht getaucht war, das fast zärtlich die Linien seines Profils nachzeichnete.
Sie bauten auf dem Tisch alles Essbare auf, das sie im Kühlschrank und in der großen Speisekammer fanden. Es gab nicht nur Brot, Wurst und Käse, sondern auch Kompott, Joghurt, Schokolade, Obst, Gurken und Tomaten. Dazu tranken sie den dunkelroten Wein, den Aidan aus dem Keller mit nach oben gebracht hatte.
»Ich kann nicht mehr«, verkündete Fiona, nachdem sie von fast allem probiert hatte, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und strich sich mit der Hand über den Bauch. »Normalerweise esse ich nicht halb so viel. Aber seit ich hier in Schottland bin … Es scheint, als ob ich hier mehr Energie brauche.«
»Gefühle sind anstrengend.« Sein Blick glitt wie ein Streicheln über ihr Gesicht.
Sie nickte. »In Deutschland habe ich nie geweint. Ich habe es mir als Kind irgendwann abgewöhnt. Und jetzt scheint es, als müsste ich jede Träne nachholen, die ich während all der Jahre unterdrückt habe.«
Obwohl sie es nicht vorgehabt hatte, erzählte Fiona Aidan im sanften Licht der Kerzen von der Trennung ihrer Eltern, während vor den Fenstern der Sturm heulte und der Regen prasselte. Davon, wie sie sich von ihrer Mutter verraten gefühlt hatte, dass es aber eigentlich ihr Vater gewesen war, der wirklich Verrat an ihr begangen hatte.
»Irgendwann habe ich beschlossen, dass ich wegen einer Mutter, die mich einfach so im Stich gelassen hat, keine Tränen mehr vergießen werde. Und ich habe mich daran gehalten. Ich weinte nie mehr.« Fiona nippte an ihrem Wein und genoss das samtige Gefühl in ihrer Kehle.
Aidan hatte nach ihrer Hand gegriffen und strich sanft mit den Fingerspitzen über ihren Handrücken. Er sagte nichts, hörte ihr nur aufmerksam zu und schaute sie an. Es war ein gutes Gefühl, ihm alles zu erzählen. Als würde ihr ein Teil der Last, die sie all die Jahre mit sich herumgetragen hatte, von der Seele genommen.
»Irgendwann hatte ich Angst, nie wieder aufhören zu können, wenn ich erst einmal anfing, zu weinen. Aber seit ich hier bin und weiß, dass meine Mutter mich nie vergessen hat … Sobald ich etwas Trauriges höre oder lese, auch wenn es gar nicht um mich geht, sondern zum Beispiel um Catriona, kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Sie fließen in Strömen aus meinen Augen. Ich kann mich gar nicht erinnern, wie es mir früher gelungen ist, mich in solchen Momenten zu beherrschen! Und komischerweise scheinst immer du da zu sein, um mich zu trösten, so dass ich dann auch wieder aufhören kann.«
Aidan sagte immer noch nichts, doch er legte seine große Hand um ihr Gesicht und streichelte mit der Daumenkuppe ihre Wange. Eine Berührung, die sie fast schon wieder zum Weinen brachte. Doch dann lächelte Fiona, denn ihr wurde klar, dass sie sich nie zuvor in ihrem Leben so wohl und geborgen gefühlt hatte wie in dieser stürmischen Nacht auf Sinclair Castle mit dem Mann, der ihr so aufmerksam zuhörte, sie so liebevoll ansah und so zärtlich berührte. Doch als Aidan langsam die Hand sinken ließ und nach der Weinflasche griff, um ihr nachzuschenken, schüttelte sie den Kopf.
»Ich will einen klaren Kopf behalten. Als wir uns zum ersten Mal geküsst haben, dachte ich, es habe vielleicht am Tee gelegen. Das zweite Mal, auf der Straße, war ich in Tränen aufgelöst und brauchte Trost. Heute Abend aber… ich möchte mir
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