Geisterlicht: Roman (German Edition)
den Blick wieder abwenden. Er schien bis auf den Grund ihrer Seele zu schauen und all ihre Angst und ihren Schmerz zu sehen. Fiona atmete tief durch. »Ich muss die Kräuter selber pflücken. Sie … sie sind sehr schwer zu erkennen. Aber es wäre schön, wenn du mich begleiten würdest. Ich glaube, dann schaffe ich es, ins Boot zu steigen. Es ist nur der See. Er ist so tief. Ich habe ja inzwischen sogar schwimmen gelernt. In einem Becken, das nicht allzu groß ist, dessen Tiefe ich genau kenne und wo ich jederzeit den Rand erreichen kann, traue ich mich. Aber ich war seitdem nie in einem See oder im Meer. Und ich habe auch niemals ein Gewässer in einem Boot überquert.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt, so dass ihre Stimme ganz gequetscht klang.
»Wofür brauchst du die Kräuter denn so dringend?« Er wandte nicht eine Sekunde seinen prüfenden Blick von ihr ab.
»Sie sind für Dawn«, erwiderte Fiona und biss sich auf die Unterlippe. »Es geht ihr nicht gut, und ich glaube, ein Tee aus diesen Kräutern könnte ihr helfen.«
»Ist sie krank? War sie schon beim Arzt?« Aidans Hand war immer noch auf ihrem Arm. Es fühlte sich an, als würde sie langsam ein Loch in den Stoff ihrer Jacke brennen.
»Es ist nicht körperlich«, erklärte Fiona hastig. »Und erwähne ihr gegenüber bitte nicht, dass ich mit dir darüber gesprochen habe.«
»Natürlich nicht.«
Endlich ließ er ihren Arm los. Sie hätte aufatmen müssen, aber stattdessen spürte sie ihre Angst noch deutlicher.
»Dawn kann froh sein, eine solche Schwester zu haben.«
»Aidan, ich weiß, dass du nicht viel Zeit hast und eigentlich arbeiten müsstest.« Weil ihr so kalt war, umschlang sie ihren Oberkörper mit den Armen. »Wenn es dir also nicht passt …«
»Unsinn! Komm, wir rudern hinüber. Ich war schon ewig nicht mehr auf der Insel. Als Junge war ich oft mit einem Freund aus der Nachbarschaft dort. Es gab dort damals ein uraltes Sommerhäuschen, in dem wir ganze Nachmittage lang gespielt haben. Ich bin gespannt, ob es noch steht.« Der Gedanke, diesen Ort seiner Kindheit zu besuchen, schien Aidan zu gefallen.
Fiona folgte ihm die Treppe hinunter. Mit jedem Schritt wurde ihr Unbehagen größer. Sie wusste, wenn sie es schaffte, in ein Boot zu steigen und darin hinüber zur Insel zu fahren, dann nur an Aidans Seite. Und doch war sie nicht sicher, ob die Kraft ihrer Gefühle für ihn ausreichen würde, um ihre Angst zu besiegen.
Siebzehntes Kapitel
Schon als kleiner Junge war Aidan sich der geheimnisvollen dunklen Tiefe des Loch Sinclair bewusst gewesen, wenn er sein Wasser überquerte. Gemeinsam mit seinem Freund Reed hatte er manchmal versucht, an den Stellen, wo es ihnen erlaubt war, weil es dort keine gefährlichen Strudel gab, bis hinunter zum Grund zu tauchen. Sie waren nie bis ganz nach unten gelangt. Worüber Aidan insgeheim froh gewesen war, denn dort herrschte eine dunkelgrüne Finsternis, die in seiner Fantasie mit gefährlichen Kreaturen bevölkert gewesen war. Natürlich hatte er Reed gegenüber seine Angst nie erwähnt. Heute dachte er, dass sein Freund bestimmt ähnlich empfunden haben musste, denn auch Reeds Tauchversuche waren immer eher halbherzig gewesen.
An diesem sonnigen Herbsttag aber dachte Aidan nicht an Seeungeheuer. Er sah nur Fionas blasse, angespannte Miene und spürte ihre Angst angesichts des Wassers, von dessen Tiefe und den zahlreichen gefährlichen Strudeln sie hoffentlich nichts ahnte.
Da ihr Zittern nicht zu übersehen gewesen war, hatte er eine Decke mitgebracht. Außerdem hatte er Mrs Innes gebeten, ihnen einen Picknickkorb mit Sandwiches, Obst und einer Thermoskanne mit heißem Tee herzurichten. Die Mittagszeit nahte, und er wusste ja nicht, wie lange Fiona brauchen würde, um auf der Insel ihre Kräuter zu finden. Der gesüßte Tee und das Essen würden ihr helfen, ihre Nerven zu beruhigen, bevor sie das Boot für die Rückfahrt wieder bestieg, hoffte er.
Als sie den See erreichten, war Fionas Miene wie versteinert. Sie richtete ihre Augen starr auf die Insel im See und presste die Lippen fest zusammen, während sie an seiner Hand die ausgeblichenen Holzplanken des Stegs betrat. Ihre zitternden Finger waren eiskalt, und sie umklammerte seine Handfläche so fest, dass es schmerzte.
»Einen Moment nur. Bleib einfach ganz ruhig stehen«, wies er sie an, als er kurz ihre Hand loslassen musste. Sie wurde noch bleicher, fügte sich aber.
Aidan lächelte ihr aufmunternd zu und trat vom Steg hinunter in das
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