Geisterstadt
Schmerz einfach hinter sich lassen, alles ausblenden. Wenn man diesen Trick einmal draufhatte, verlernte man ihn nie wieder. »Das glaub ich aber doch.«
Lauren lächelte und hob die Hände. Die Ärmel der Robe rutschten ihr bis zu den Ellbogen hinunter und entblößten die blassen, untätowierten Unterarme und Handgelenke. »Ich schätze, die Ersten Ältesten sind da anderer Meinung.«
34
Vor allem verlangen sie Loyalität, wie auch die Kirche Loyalität verlangt; und Loyalität bleibt unser höchstes Gebot, zu welchem Preis auch immer, denn diese Welt ist nur eine Brücke in die nächste. Und das ist die Wahrheit.
Das Buch der Wahrheit, »Regeln«, Artikel 426
Chess wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Zwanzig Minuten? Stunden? Alles war an ihr vorbeigerauscht. Ihr Magen rebellierte. Die Ersten Ältesten würden sie töten. Schmerzhaft. Man würde sie in ein Geistergefängnis stecken und sie jahrhundertelang foltern, im Feuer rösten, mit Eisen durchbohren ... und sicherlich erwarteten Eidbrecher noch ganz andere Überraschungen.
Bis jetzt hatten sie sich noch nicht gezeigt. Aber sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Früher oder später - wahrscheinlich eher früher - würden ihr die Fragen ausgehen, die sie gefahrlos beantworten konnte.
»Das ist doch albern, Cesaria.« Lauren wedelte ihr mit der Spritze vor der Nase hemm. »So einen Tod hast du doch nicht verdient. Und ins Geistergefängnis musst du auch nicht. Sag uns einfach, was wir wissen wollen, dann wird dein Ende gleich viel angenehmer ausfallen.«
»Ich hab’s keinem verraten«, sagte Chess und biss sich so fest auf die Lippe, dass sie Blut schmeckte, als der Schmerz ihr erneut den Arm hinaufflammte. Ihre Kleidung und der Teppich um sie herum waren von ihrem Blut durchtränkt; der Femseh-schrank, neben den sie sich gekauert hatte, war davon bespritzt. Sie sagte sich immer wieder, dass vergossenes Blut immer viel dramatischer aussah, als es in Wirklichkeit war, aber das war nicht so einfach, wenn das Blut, um das es ging, das eigene war. »Ich weiß überhaupt nichts.«
»Oh doch, das glaube ich schon. Du hast gesagt, du hättest Eriks Leiche entdeckt. Du hast ihn gesehen. Was ist mit ihm passiert?«
»Das willst du nicht wissen.«
»Doch. Sonst hätte ich ja wohl nicht gefragt, oder?«
Welche Schlüsse konnten sie aus der Antwort ziehen? Dass Vanhelm tot war, wussten sie bereits. Wäre es denn so schlimm, wenn sie auch noch von der posthumen Organentnahme erfahren würden? Sie glaubte wenigstens, dass die Organe erst nach seinem Tod entfernt worden waren.
Vielleicht war die Information gar nicht so harmlos. Sie wusste es nicht genau. Inzwischen hatten sie ihr so viele Fragen gestellt, dass sie sie im Kopf nicht mehr auseinanderhalten konnte. Sie hatte keinen Überblick mehr, was sie ihnen verraten hatte und was nicht, was sie erzählen durfte und was sie für sich behalten musste.
Aber von Lex oder Terrible hatte sie nichts gesagt. Und Baldarel hatte sie ebenfalls aus dem Spiel gelassen. Sie hatte keine Ahnung, ob das nötig war oder nicht.
Ein Teil von ihr war überzeugt, dass es sowieso keine Rolle spielte und dass sie es ihnen einfach erzählen sollte. Ihnen einfach diesen Brocken hinwerfen und zusehen, wie sie damit klarkamen. Vielleicht würden sie sich ja untereinander zerfleischen und ihren Plan hinsichtlich der Kirche einfach vergessen, wie auch immer der aussehen mochte.
Aber es fühlte sich falsch an. Irgendwie wurde sie den Gedanken nicht los, dass es ihr einen gewissen Vorteil verschaffte, wenn sie nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten und für wen sie in Wirklichkeit arbeiteten. Ein Vorteil für sie und ein Vorteil für die Kirche. Es musste einfach einen Weg geben, wie man ihre Ahnungslosigkeit gegen sie verwenden und sie in die Irre fuhren konnte. Und das würde ihr ein bisschen Zeit geben, damit sie fliehen konnte - ja, sicher, klar - oder wenigstens ... für irgendwas. Egal was.
Schlussendlich konnte sie sowieso nur nach ihrem Bauchgefühl gehen. Und etwas sagte ihr, dass es besser war, ihnen das mit Baldarel nicht zu verraten. Wenigstens noch nicht sofort. Wenn die Ersten Ältesten auftauchten, überlegte sie es sich vielleicht noch mal anders.
»War irgendjemand bei dir?«
»Nein.« Oh Scheiße ... das war jetzt heftiger, viel schlimmer, als würde man ihr Säure spritzen, die sich den Arm hinauffraß. Blut quoll aus den Wunden, mehr und schneller diesmal. Ihr kam der Gedanke, dass es
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