Geisterstadt
wäre es schon Jahre her.
Einen Augenblick lang herrschte ein unheimliches Gleichgewicht, während sie mit dem magischen Ansturm rang, der ihr die Schädeldecke zu sprengen drohte. Sie biss die Zähne zusammen, legte sich noch mehr ins Zeug, wartete und drückte aus Leibeskräften.
Und dann war es einfach verschwunden. Sie verlor das Gleichgewicht und knallte mit der Stirn gegen die Tür, aber das Triumphgefühl war so stark, dass sie sich nicht im Geringsten dafür schämte. Und schließlich war es auch egal, immerhin wusste von den Männern eh keiner, wie es eigentlich aussehen sollte.
Sie drehte sich zu ihnen um und musterte sie ein letztes Mal prüfend. »Denkt an alles, was ich euch gesagt habe, okay?«
Sie nickten. Ihre Angst wehte Chess durch die Luft entgegen. Auch dagegen musste sie ankämpfen. Sie hatte schon genug Probleme, da musste sie sich nicht auch noch über die Gefühle ihrer Gefolgsleute Gedanken machen.
Ein tiefer Atemzug, der ihr Glück bringen sollte, und ein weiterer zu ihrer Beruhigung.
»Na dann los!«
Sie stieß die Tür auf und trat durch eine dicke magische Barriere und die Mauer aus Eisenketten in die Ewige Stadt.
Die Männer sogen scharf die Luft ein. Chess tat es ihnen gleich, allerdings aus einem anderen Grund. Die Zeremonie war in vollem Gange. Sie erkannte die gedrängte Menge aus Gestalten in blauen Roben in etwa hundert Metern Entfernung. Die geballte magische Energie durchfuhr sie mit der Wucht einer Atombombe und erschütterte sie genauso heftig.
Sie wollte nicht, dass sie sie bemerkten. Noch nicht. Also bückte sie sich, deutete den Männern mit einem Wink, es ihr gleichzutun, und machte sich vorsichtig daran, den unebenen, nackten Boden zu überqueren, ohne die Kirchenversammlung auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
Dort bewegte man sich langsam im Kreis und sang im Chor. Worte der Macht hallten von den glatten Erdwänden, stiegen hundert Meter in die Luft und brachen sich an der fernen Decke. Ein Teil des Lichts ging von den Kerzen im Inneren des Salzkreises aus, den die Kirchenangestellten gezogen hatten; sie wusste genau, wie dick die Linie sein musste, wusste, dass mindestens zwei Älteste abseits der Zeremonie standen und einzig und allein damit beschäftigt waren, Energie in den Kreis fließen zu lassen, um ihn mit Kraft zu versorgen.
Zusätzliches Licht kam von den Schutzzeichen, die jeden Quadratzentimeter der Wände und der Decke bedeckten und die Erdkraft noch verstärken sollten, deren Magie sie blau auf-leuchten ließ.
Die stärkste Lichtquelle jedoch waren die Geister. Hier unter der Erdoberfläche leuchteten sie noch heller als oben, sodass jeder von ihnen an eine blaue Glühbirne in Menschengestalt erinnerte, die durch die Luft schwebte. Überall in der riesigen Höhle schwirrten Geister umeinander, segelten durch den gewaltigen leeren Raum oder hingen dicht über dem Boden. Sie ballten sich in abstoßenden Klumpen an den nackten Wänden und folgten der Zeremonie mit hasserfüllten Blicken. Ihre Wut war selbst jetzt noch überwältigend, obwohl sie durch die mächtigen Schutzzeichen der Stadt und die Erde selbst in Zaum gehalten wurde. Außerhalb der Stadt waren Geister unter der Erdoberfläche mächtiger und gefährlicher - aus diesem Grund waren Keller und unterirdische Räume auch illegal. Aber hier in der Stadt hatten sie keine Macht - es sei denn, jemand beging den Fehler und ließ ihnen eine Waffe in die Hände fallen oder öffnete ihnen einen Fluchtweg durch einen der Ausgänge zur Bahnstrecke.
Es gab keine Verstecke mehr, als Chess die Männer auf die Zeremonie zuführte. Keine Felsbrocken, keine Gräben, keine Erdhaufen. Die Ewige Stadt hatte keine hervorstechenden Geländemerkmale, bot nichts, woran das Auge sich festhalten konnte. Es war eine eisblaue Neonhölle, so kalt, dass ihre Nase sich taub anfühlte, und so riesig, dass sie noch nie einen Blick auf das Ende erhascht hatte.
Sie schoben sich an der Mauer der Verbindungsleute-Station vorbei und schöpften trügerische Zuversicht aus dem Halt in ihrem Rücken. Gleich waren sie daran vorbei und im freien Gelände; man würde sie erspähen. Sie hatte keine Ahnung, wie man auf ihre Ankunft reagieren würde.
Schon hatten einige Geister sie entdeckt. Sie waren über die Anwesenheit der Kirchenangestellten und die Vorstellung, dass lebende Kreaturen, die sie nicht berühren konnten, in ihre Heimstatt eindrangen, derart erbost gewesen, dass sie länger gebraucht hatten als
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