Geisterstadt
würde mit einer Welt geschehen, in der die Kirche die Geister nicht mehr länger unter Kontrolle hatte?
Sie tauchte aus dem Schlaf in zinnfarbenes Dämmerlicht, das ihr verriet, dass es entweder gerade regnete oder gleich anfangen würde. Das war’s dann wohl mit dem sonnigen Vorfrühling von gestern.
Sie hielt sich nicht lange mit dem Gedanken auf, registrierte es nur beiläufig, ebenso wie die verschwommene Erinnerung daran, wie Lex ihr die löchrige Decke übergeworfen hatte, bevor er gegangen war. Ihr Oberschenkel schmerzte, ebenso wie ihr Kiefer dort, wo Vanhelm sie geschlagen hatte, obwohl es nicht so schlimm war, wie sie befürchtet hatte.
Nicht so schlimm wie die schmerzhaften Gedanken und der Schmerz in ihrem Herzen. Wenn die Kirche keine Geister mehr kontrollieren konnte, sie nicht mehr bannen konnte, dann würde sie alles verlieren. Es würde eine zweite Geisteiwoche geben, und diesmal wäre es vielleicht noch schlimmer, weil es jetzt wirklich nicht mehr die geringste Hoffnung gäbe oder weil am Ende sogar die Lamaru den Platz der Kirche einnehmen würden - und bei dem Gedanken an eine Welt, in der die Lamaru das Sagen hatten, griff sie noch schneller als gewöhnlich zum Pillendöschen.
Sie stolperte in die Küche und schnappte sich eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank. Ihre Kehle brannte und schmerzte vom Rauch, und ihr ganzer Körper fühlte sich schlaff und schmutzig an, was allerdings zu einem guten Teil daran lag, dass sie ihre Pillen noch nicht intus hatte.
Und außerdem war heute schon Donnerstag. Nur noch zwei Tage, dann stand der Besuch in der Stadt der Ewigkeit an. Urgs! Daran wollte sie lieber nicht mal denken. Genauso wenig wie an Lex’ Gesichtsausdruck, als er begriffen hatte, dass sie mit ihm Schluss machte - soweit es überhaupt etwas gegeben hatte, was man beenden konnte. Und genauso wenig wie an den Ausflug in die Tunnel, der ihr jetzt bevorstand.
Und ganz besonders vermied sie den Gedanken, ob ausgerechnet sie die Willenskraft aufbringen würde, nicht doch irgendwann wieder mit ihm in der Kiste zu landen, besonders jetzt, wo Terrible ... Er hatte sich eine neue Nummer zugelegt. Und er hatte es erst vor Kurzem getan, ihr letzter Anruf war - wie lange? - zehn Tage her? Neun?
Jetzt stellten die Lamaru eine echte Bedrohung dar. Psychopompmagie war das Fundament für die Macht der Kirche, ihr Daseinszweck. Sie hatten irgendwas mit Laurens Raben angestellt, wer konnte da noch sagen, ob man sich überhaupt noch auf Psychopomps verlassen durfte? Ihre Paranoia angesichts des Schädels in ihrer Tasche gestern hatte also eine gewisse Berechtigung gehabt, und das war verdammt gruselig, oder?
Keine Kirche mehr. Kein Schutz mehr für die Menschheit. Kein Job für sie - wahrscheinlich überhaupt kein Leben mehr für sie, denn sie war sich ziemlich sicher, dass die erste Amtshandlung der Lamaru nach der Machtübernahme darin bestehen würde, alle Kirchenangestellten umzubringen, die sie in die Finger bekamen. Eine Welt, die noch düsterer war als die, in der sie jetzt lebte.
Und wie waren die Maguinness-Leute in diese Sache reingeraten? Er kämpfte gegen die Lamaru, so weit alles klar. Aber warum hatte er sich damit nicht an die Kirche gewandt? Und warum hatte er Madame Lupita besucht?
Scheiße! Uber keine dieser Fragen wollte sie besonders gerne nachdenken, also warf sie ein paar Pillen ein und vertrieb sich die Zeit bis zum Einsetzen der Wirkung, indem sie mit dem Peilgerät heramspielte. Sie schaltete es ein und klickte sich wahllos durch ein paar Menüs. Karten ... Signalstärke ... Sensoren. Zwei Lichter blinkten, eins für jeden Sensor, den sie gestern angebracht hatte.
Aber keiner von beiden war im Schlachthof.
Vanhelm war entkommen, so viel wusste sie bereits. Aber trotzdem bewegte sich keiner der beiden Sender. Hatte er den Sensor an seinem Shirt entdeckt und weggeworfen? Oder ruhte er sich irgendwo in einem Versteck aus?
Wahrscheinlich spielte es sowieso keine Rolle. Die Chance, dass Vanhelm immer noch die gleichen Klamotten trug wie letzte Nacht und dass der Sensor immer noch an diesen Klamotten klebte, war ohnehin ziemlich gering. Dass sein Auto immer noch an Ort und Stelle stand, war nicht ganz so unwahrscheinlich, aber das Auto würde ihr sowieso nicht viel verraten. Aber es konnte sich immerhin lohnen, das mal zu überprüfen; schlimmstenfalls land sie vielleicht ein bisschen mehr darüber raus, wohin es die Lamaru jetzt verschlagen hatte, nachdem der Schlachthof nicht
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