Geisterzorn: Der Fluch von Lost Haven (German Edition)
Friedhof.
7
Ich saß im Auto und fuhr auf der Landstraße, die quer durch ein endlos scheinendes Waldgebiet führte, nach Hause.
Ich war so unendlich müde. Ich hätte auf der Stelle einschlafen können. Ob es daran lag, dass ich letzte Nacht kein Auge zugetan hatte oder ob die monotone Einöde links und rechts von mir schuld war, sei dahingestellt. Es war vermutlich eine Mischung aus beidem. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, jeden Moment von der Straße abkommen und in einen Baum rasen zu können, wenn ich nicht eine Pause einlegte.
Ich fand eine Stelle am Straßenrand, die zwar kein Parkplatz war, aber auf der ich weit genug entfernt vom Asphalt war, um nicht gestört zu werden.
Der Himmel hatte wieder seine Schleusen geöffnet. Das Prasseln der Regentropfen auf das Wagendach meines Kombis störte mich nicht. Es machte mich nur noch umso mehr schläfrig.
Ich ließ die Lehne des Fahrersitzes ein Stück herunter.
Auf dem Beifahrersitz lagen zwei große Einkaufstüten. In der einen hatte ich mir vorwiegend Süßigkeiten, die ich vor einer halben Stunde an einer Tankstelle gekauft hatte. Gleich nachdem ich die Ware bezahlt hatte, stopfte ich mir wahllos Chips und Schokolade rein. So einen Heißhunger auf Süßes hatte ich noch nie gehabt. Aber, sollte ich mich jetzt darüber wundern?
Ich schaute auf die andere Tüte und versuchte mich zu erinnern, was ich noch gekauft hatte. Aber ich konnte mich nicht erinnern.
Ich ließ die Tüte auf dem Beifahrersitz liegen und faltete sie auf. Es war eine zwei Liter Wodka-Flasche darin. Der wahrscheinlich billigste Fusel, den die Tankstelle verkaufte.
Hatte ich das gekauft? Ich konnte mich immer noch nicht entsinnen, aber ich hatte sie gekauft, wie einen gewöhnlichen Gebrauchsgegenstand, den man nicht auf der Einkaufsliste hatte, und an dessen Kauf man sich nach dem Bezahlen nicht mehr erinnern kann.
Ich faltete die Tüte wieder zu, ohne mir Gedanken zu machen. Ich war einfach zu müde.
Ich schloss die Augen und schlief schnell ein.
Und ich träumte.
Ich träumte auf die Art, wie ich von Melissa geträumt hatte.
Ein Traum, der sich realer als die Realität anfühlte. Ein Traum, der mich glauben ließ, ich sei wach.
8
Ich erwachte im Traum. Und natürlich war ich davon überzeugt, dass ich tatsächlich wach war. Immer noch saß ich mit zurückgelegter Lehne in meinem Wagen. Nur die Umgebung war anders. Der Wald war fort. Um mich herum war alles grau. Ich hatte die Orientierung verloren.
Also entschied ich mich, auszusteigen. Vor mir war eine Nebelwand, in die ich keinen Meter weit hineinsehen konnte. Hinter mir erkannte ich einen kleinen baufälligen Zaun. Dahinter waren Gräber. Alte Gräber. Und kein Nebel.
Jetzt dämmerte mir, wo ich mich befand. Ich stand am Rande des alten Friedhofes von Lost Haven. Der Friedhof, auf dem schon seit Jahrzehnten keiner mehr beerdigt wurde.
Das ganze Gelände war von dem dichten Nebel eingekesselt. Wo war der Rest von Lost Haven? Wo waren die Menschen?
Ich wollte nicht auf den Friedhof gehen. Dort konnte nichts Gutes auf mich warten. So entschied ich mich, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. In den Nebel hinein. Doch kaum hatte ich einen Fuß in die undurchsichtige Barriere gesetzt, vernahm ich merkwürdige Geräusche. Sie kamen irgendwo aus dem Nebel.
Ich ging wieder einen Schritt zurück und stellte mich an mein Auto. Die Geräusche klangen wie Schritte, die aber sehr unregelmäßig erfolgten. Hinkende Schritte.
Irgendetwas war in diesem Nebel, und es kam direkt auf mich zu.
Ich wollte wieder in den Wagen steigen, aber ich bekam die Tür nicht auf. Unruhig rüttelte ich am Griff. Doch es nützte nichts. Es war abgeschlossen. Der Schlüssel hing im Zündschloss.
Die drohenden, schlurfenden Schrittgeräusche wurden lauter. Das war kein Zufall, dachte ich im Traum. Ich sollte gezwungen werden, auf den Friedhof zu gehen.
Mehrmals wechselte mein Blick zwischen Friedhof und Nebel hin und her.
Die Schritte kamen näher. Sie stammten nicht von einem paar Füßen, sondern von dutzenden Paaren. Und es kamen ständig neue hinzu. Es wurden so viele, dass ich bald nur noch statt vieler einzelner Schritte ein dröhnendes Rauschen hörte.
Nein, ich wollte nicht herausfinden, was da im Nebel war. Ich ging auf den Zaun zu, der nicht höher war als ein Meter und sprang darüber.
Zwischen uralten, schief stehenden Grabsteinen, auf denen sich Moos und Efeu breit gemacht hatte, wanderte ich ziellos umher.
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