Geliebte des Feuers
geträumt, wäre erneut in eine Welt hinabgestiegen, in der die Geister Körper besaßen und die Vergangenheit atmete und sich so Erinnerungen am Leben hielten, die längst den Frieden des Todes verdient hätten.
Stattdessen duschte sie, schlang einen Brunch von dem Büfett in diesem prachtvollen Atrium-Speisesaal herunter, nahm ein Taxi zur National Taiwan University und machte sich auf den kurzen Weg zu einem Gebäude, das mehr Ähnlichkeit mit einem Betonfilter aufwies als mit einem Zentrum des Denkens und Lernens, wo sie von den dunklen, spröden Gesichtern von mumifizierten Leichen empfangen wurde. Es waren zwei Männer und eine Frau, alle in den Posen zeremonieller Bestattung zusammengerollt, mit den Knien auf der Stirn, die Arme über der Brust gekreuzt. Sie waren wunderschön. Und erst seit zwei Wochen aus der Erde gegraben, dank Miris Mentor, Owen Wills. Es war ein sehr seltener Fund, den er dort tief in Taiwans Yushan-Nationalpark gemacht hatte. Diese bergige Region lag im Zentrum der Insel und war eine der wenigen geschützten Reservate in einem Land, das von der Industrie und einer Bevölkerung, die nicht an die Gefahren dachte, die mit der Zerstörung der Umwelt einhergingen, gnadenlos ausgebeutet wurde.
Die Luft roch nach Chemikalien, aber das störte Miri nicht. Labore dieser Art waren ihr Zuhause, ganz gleich in welchem Teil der Welt sie sich befand. Die Untersuchungstische waren breit und sauber, aus rostfreiem Stahl gefertigt und mit Rädern versehen. Wenn die Professoren, Assistenten und Techniker genug an den uralten Leichen herumgepikst und -gedrückt hatten - und zwar beides sehr, sehr vorsichtig -, konnten die Leichen so einfacher zu ihren Druckluftkammern zurückgebracht werden, die dem Labor angeschlossen waren. Diese Männer und die Frau waren alt, mehrere tausend Jahre älter als Miri jedenfalls, und jedes Mal, wenn sie im Labor untersucht wurden, war das sehr nachteilig für den Zustand ihrer Leichen.
Deshalb überraschte es sie auch, alle drei Toten aufgebahrt und unbewacht vorzufinden. Nur über der Frau hing eine Lampe. Sie war noch so frisch exhumiert, dass man ihr keinen offiziellen Namen gegeben hatte, was Miri als eine Schande empfand. Aber der einzige Name, der ihr angemessen und respektvoll erschienen wäre, war ein Name aus ihrer Zeit, und die war so weit entfernt, so fern, dass Miri sich nicht einmal annähernd vorstellen konnte, welcher weibliche Name zu Lebzeiten dieser Frau angemessen gewesen wäre.
Und das war ihr wichtig. Sie wusste, dass die Assistenten ihre eigenen Spitznamen für die Mumien hatten. Doch sie brachte es nicht über sich, sie zu verwenden. Es war nicht respektvoll, und es war schon schlimm genug, jemanden aus dem Grab zu zerren, aus der Erde, auf der er geboren und gestorben war, und das auch nur für die Zwecke der kalten, harten Wissenschaft.
Aber das ist nicht alles, erinnerte sich Miri, während sie auf das geschrumpfte Gesicht starrte, das so bemerkenswert und beinahe unwahrscheinlich gut erhalten war. Sie lehrt uns etwas über ihre Welt.
Und wenn sie ihre Lektion beendet hatte, würden diese Frau und die beiden anderen erneut zur Ruhe gebettet werden, aber nicht in der Erde, sondern im Museum des Königlichen Palastes in Taipeh, als Teil der wachsenden Ausstellung von Taiwans uralter Geschichte. Die Eingeborenen des Landes protestierten bereits energisch dagegen, aber die Regierung verstand es ausgezeichnet, den Leuten Geld in den Rachen zu werfen, wenn sie Ruhe wollte. Es bereitete Miri Unbehagen, zu dieser Kontroverse beizutragen, weil sie sich Owen so tief verbunden fühlte. Aber das gehörte nun mal zum Job, wenn man die Vergangenheit von jemandem anders studierte. Wenn das, was man fand und untersuchen musste, einer anderen Kultur angehörte, trat man immer irgendjemandem auf die Zehen. Das war beinahe unvermeidlich.
Miri beugte sich über die einbalsamierte Frau und warf einen Blick auf die Brust der Leiche, die von ihren dürren Armen halb verborgen wurde. Eine Stelle vor allem erregte Miris Aufmerksamkeit: Sie wirkte irgendwie verändert im Vergleich zu der letzten Untersuchung, an der sie teilgenommen hatte. Ein Teil des wundervoll gewebten Tuchs schien abgehoben und dann wieder zurückgelegt worden zu sein. Es war sehr geschickt gemacht worden, und nur eine einzige Person, die sich zurzeit an der Universität aufhielt, besaß genügend Geschick und hatte überhaupt das Recht dazu, einen derartigen Eingriff an der Leiche vorzunehmen.
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