Geliebte des Feuers
über Wut und Enttäuschung zu wissen glaubte. Es tut mir leid, dachte sie. Es tut mir so leid, dass du deine Lektion auf diese Weise lernen musstest. Sie konnte ihm nicht einmal mehr böse sein, dass er sie hierhergeschleppt hatte.
Oder dass er sie verließ. Was er auch tat, und zwar ohne ihr noch einmal einen Blick zuzuwerfen. Mit einem Satz breitete er seine Schwingen aus, die wie Strahlen aus Leder und Licht aus seinem Körper wuchsen. Das immerhin machte sie wütend.
»Du hast allen Grund, wütend zu sein«, meinte Lysander, der seinem Sohn nachsah, wie er im nächtlichen Himmel verschwand. »Er hat wirklich ganz ungehobelte Manieren.«
»Ich bin sicher, dass ich ihm seine Unhöflichkeit vergeben kann. Immerhin hat ihm sein eigener Vater ein Ohr abgerissen und es verspeist.«
Lysander grinste boshaft. »Das Leben ist niemals fair.«
Dann näherte er sich Miri, wand seinen massigen Körper wie eine Schlange über den Boden. Erneut lachte er, und der Geruch von Asche und Blut hüllte sie ein.
»Du glaubst, du könntest weglaufen.« Die Stimme des Gestaltwandlers klang sanft, so leise wie ein schwacher Donner, wie das Rauschen eines fernen Stroms.
»Ich kann es zumindest versuchen«, erwiderte Miri, die genau wusste, dass ihre Beine sie niemals tragen würden, so zittrig waren sie. »Aber ich glaube auch, dass du mich lebend willst.«
»Für einen gewissen Zeitraum, ja«, antwortete der Drache. »Aber es gibt auch eine Zeit für den Tod. Vor allem für den Tod.«
Miri zwang sich, sich nicht zu bewegen. Lauf niemals vor Unsterblichen weg, dachte sie; es war ihr Lieblingssatz aus einem ihrer Lieblingsfilme. Lauf niemals weg.
»Was für ein vernünftiger Ratschlag, obwohl ich dir versichern kann, dass der Körper, den ich besitze, keineswegs unsterblich ist.«
»Aber du bist es.« Miri spekulierte einfach wild drauflos. »Du bist unsterblich.«
Wieder lächelte Lysander. »Ja, ich. Ich und kein anderer. Also, du hast die Jade. Gib sie mir.«
Miri hatte noch immer ihre Tasche über die Brust geschlungen. Mit zitternden Händen griff sie hinein und suchte nach dem Artefakt. Es war nicht mehr da.
Sie wusste, dass Lysander ihre Unruhe spürte, aber er reagierte nicht, bis Miri wirklich in Panik geriet. Er riss ihr die Tasche vom Leib und kippte ihren Inhalt auf den Boden. Ihr Pass fiel heraus, das Geld, Stift, Papier und ein kleines Steinherz, das auf die Steine klapperte.
Doch die Jade war nicht dabei. Lysander starrte sie scharf an - und sie wusste, dass er in ihrem Gedächtnis suchte. Sie kämpfte dagegen an, konzentrierte sich auf Mathematik, auf Trivialitäten, auf oberflächliche Gedanken. Aber das genügte nicht.
»Du hast das Bewusstsein verloren«, sagte der Drache gedehnt. »Da war Zeit genug, auch andere Dinge zu verlieren. Ich vermute, mein Sohn war doch nicht so naiv, wie ich dachte.«
Der Drache beugte sich vor. In ihrer Brust pochte ein
Schmerz, als goldenes Licht aus der Kreatur sickerte, goldenes Licht, in das sich ein Schatten mischte, der sich wie Klauen krümmte und dunkler war als die Nacht. Instinktiv wich Miri davor zurück.
»Beweg dich nicht!«, zischte der Drache.
Aber Miri hatte keine Lust, einfach nur regungslos abzuwarten. Sie hockte auf Händen und Knien, sammelte ihren Pass ein, den kleinen herzförmigen Stein, stopfte alles in ihre Hosentasche und versuchte erneut aufzustehen. Diesmal gelang es ihr, und zu ihrem Schreck stellte sie fest, dass sie am Rand einer Brustwehr stand, von der aus sie auf einen ihr wohlbekannten Park blickte. Tief unten sah sie eine breite Steintreppe, die zu einem großen gepflasterten Weg führte. Der Stein, den sie um sich herum sah, war hell, fast so weiß wie die Schuppen des Drachen.
Es war die Chiang-Kai-shek-Gedächtnishalle. Und sie saß ganz oben auf dem Dach.
Der Park unter ihr war fast menschenleer. Der Morgen war noch nicht ganz angebrochen. Miri fragte sich, ob jemand gesehen hatte, wie Bai Shen und sein Vater hier gelandet waren. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass etwas so Großes, Weißes zu übersehen war. Und sie glaubte auch nicht, dass die Ereignisse dieses Abends unbemerkt bleiben würden. Das Feuer in der Universität würde sicher in den Nachrichten erwähnt werden, ebenso das Verschwinden der Mumien und etlicher wichtiger Angehöriger der archäologischen Fakultät.
»Du hast recht«, bemerkte der Drache. »Die Nachrichten werden von diesen Ereignissen berichten.« Im nächsten Augenblick drückte er Miri mit seiner
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