Geliebte Rebellin
an. Denjenigen unter uns, die sich für die Naturwissenschaften interessieren, fällt es zwangsläufig auf, wenn sie auf seltsame Logik oder auf ungewöhnliche Zusammenhänge stoßen.« Er wollte den Vorhang gerade wieder fallen lassen, als er auf der anderen Straßenseite eine verschwommene Bewegung wahrnahm.
Baxter kniff die Augen ein wenig zusammen. Der Schein der Gaslaterne reichte gerade aus, um ihn die Gestalt, die durch die Nebelschwaden schlich, undeutlich erkennen zu lassen. Vielleicht ein Dienstbote, der heute Ausgang gehabt hat und nach seinem freien Abend wieder zurückkehrt, sagte sich Baxter.
Oder sollte es sich etwa um jemanden handeln, der hier in dieser Gegend ebensowenig zu suchen hatte wie er und Charlotte?
»Stimmt etwas nicht, Mr. St. Ives? Warum starren Sie zum Fenster hinaus?«
»Ich habe mich nur auf der Straße umgesehen.« Die Gestalt war inzwischen verschwunden. Baxter ließ die Vorhänge an ihren Platz fallen. »Ich glaube, dieses Schlafzimmer haben wir gründlich genug durchsucht. Wir sollten uns jetzt besser das nächste Zimmer vornehmen.«
»Ja, natürlich. Ich möchte Mrs. Hesketts Schlafgemach finden.« Charlotte nahm die Lampe und eilte zur Tür.
Als sie an ihm vorbeikam, bedachte sie ihn mit einem vorwurfsvollen, tadelnden Blick. Ihr Umhang wehte so wild hinter ihr her, dass sich darin die Aufgebrachtheit seiner Besitzerin widerzuspiegeln schien.
Baxter folgte ihr langsam.
Ein paar Minuten später hörte Baxter, als sie gerade dabei waren, das letzte Schlafzimmer zu durchsuchen, wie Charlotte überrascht nach Luft schnappte.
»Haben Sie etwas gefunden?« Baxter drehte sich zu ihr um und sah sie an.
Sie kniete wieder auf dem Boden und zerrte an einem Gegenstand, den sie unter einem großen Kleiderschrank mit verspiegelten Türen entdeckt hatte.
»Was halten Sie davon, Mr. St. Ives?« Sie zog ein großes in Leder gebundenes Buch heraus und schlug es auf.
»Was ist das?« Er begab sich an ihre Seite. »Ein Tagebuch?«
»Nein, es ist ein Zeichenblock.« Charlotte blätterte ein paar Seiten um und betrachtete die zarten pastellfarbenen Aquarelle. »Höchstwahrscheinlich hat er Mrs. Heskett gehört.« Sie hielt abrupt in der Bewegung inne und starrte eine der Skizzen an. »Gütiger Himmel.«
Baxter zog die Augenbrauen hoch, während er die Zeichnungen betrachtete.
»Es scheint ganz so, als hätte Mrs. Heskett großes Interesse an klassischen Statuen gehabt.«
»Ja, allerdings«, sagte Charlotte trocken. »Ich glaube, dass es sich größtenteils um griechische und römische Gottheiten handelt. Sie sind, äh, von der Natur außerordentlich üppig ausgestattet.«
»Ja, das kann man wohl sagen.«
Stumm betrachteten sie gemeinsam die Skizzen von nackten männlichen Statuen, die die meisten Blätter des Zeichenblocks bedeckten.
Charlotte räusperte sich. »Einige dieser Statuen habe ich selbst im Britischen Museum gesehen. Ich glaube, gefahrlos behaupten zu können, dass Mrs. Heskett sich bei bestimmten Teilen der Anatomie gewisse künstlerische Freiheiten herausgenommen hat.«
»Soviel steht mit Sicherheit fest.«
Charlotte schlug den Block energisch zu. »Nun, ihre Themenwahl ist für uns nicht von Interesse. Entscheidend ist nur, dass ich diesen Block unter dem Schrank gefunden habe, an einem Ort, wo ihn normalerweise niemand sehen kann.«
»Was soll daran so seltsam sein? Vielen Damen bereitet die Aquarellmalerei Vergnügen.«
»Das ist durchaus richtig. Auch meine Schwester Ariel malt gern Aquarelle.« Charlotte hob mit strahlenden Augen den Kopf. »Aber sie versteckt ihren Skizzenblock nicht unter einem Wandschrank.«
Plötzlich verstand er, was sie daraus geschlossen hatte. »Einen Moment mal, Miss Arkendale. Ich würde Ihnen raten, nicht vorschnell zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die sich auf nichts stützen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Drusilla Heskett den Block mit ihren Aquarellen absichtlich versteckt hat. Als die Dienstboten nach ihrem Tod alles verpackt haben, ist er zweifellos versehentlich dort gelandet, weil jemand dagegen getreten hat.«
»Ich bin nicht Ihrer Meinung, Sir. Ich glaube, dass der Block absichtlich dort verborgen worden ist.«
»Falls dem so sein sollte, dann kann es gut an dem bevorzugten Sujet der Dame liegen. Vielleicht wollte Mrs. Heskett nicht unbedingt, dass ihre Hausangestellten erfahren, wie viel Freude es ihr bereitet, überdimensionale Phalli zu malen.«
Charlotte blinzelte. Sie wandte den Blick ab und war
Weitere Kostenlose Bücher