Geliebter, betrogener Mann
Einsamkeit, die ihn wieder umgab und der er glaubte, entronnen zu sein, hatten seine Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Er war nahe vor einer inneren Explosion, als Dr. Wehrmann in die Bibliothek trat.
»Doktor! Sie kommen im richtigen Moment!« rief Pohland und lief Wehrmann mit ausgestreckten Armen entgegen. »Nie empfand ich Ihren Besuch als so nützlich wie gerade jetzt. Kommen Sie, trinken Sie einen alten Chateauneuf du Pape, erzählen Sie irgend etwas, tun Sie etwas – nur bringen Sie in diese Öde einen Hauch von Leben!«
Dr. Wehrmann setzte sich schwer in den Sessel am Kamin und legte den Kopf erschöpft an die Rückenlehne zurück.
Er hörte das Klappern der Gläser, das leise Knallen des aus der Flasche gezogenen Korkens, das Gluckern des Weines im Glas. Da erst öffnete er wieder die Augen. Pohland stand vor ihm, das Glas in der Hand, und sah ihn fragend an.
»Was ist, Doktor? Sie sehen wie eine Mumie aus.«
»Ich bin mir noch nie so armselig wie heute vorgekommen.« Dr. Wehrmann nahm das Glas aus Pohlands Hand und trank einen tiefen Schluck. Er schlürfte ihn einfach hinunter, ohne – wie es sonst seine Art war – den Wein auf Aussehen und Temperatur zu prüfen, die Blume zu erschnuppern und den köstlichen Tropfen zu kauen und im Munde zu drehen, ehe er ihn hinunterschluckte. »Wissen Sie, was ich bin? Ein Stümper!«
Pohland lächelte schwach. »Ich habe es immer vermieden, so etwas deutlich werden zu lassen.«
»Mensch, machen Sie nicht in Sarkasmus. Mir ist es ernst damit. Da bin ich Hausarzt, hole fünf Kinder, sehe zu, daß die Frau bei dem letzten fast verblutet, und verhindere nicht, daß ein sechstes kommt.«
»Ach Gott, ja, die Petermanns. Wie geht es der Anna?«
»Miserabel. Aber sie lebt. Noch.«
»Das ist ja schrecklich.«
»Schrecklich. Diese abgedroschenen Vokabeln.« Dr. Wehrmann sprang auf und trank dabei das Glas vollends leer. »Wenn Sie einmal so hilflos da gestanden haben wie ich, werden Ihnen andere Worte einfallen. Und erst im OP. Immer wieder rissen die Nähte ein, als zöge man die Nadel durch morsches Fleisch. Oben wurde das Blut reingepumpt, und aus der Wunde, die man nicht schließen konnte, lief es wieder heraus. Wissen Sie, wie einem da zumute ist? Wenn man da steht mit hängenden Armen und sich immer wieder verzweifelt fragt: Wie kriegst du die Wunde zu? Wie bringst du es fertig, daß die Nähte halten? Und wenn du dir dann selbst die Antwort geben mußt: Ich weiß es nicht. Im Moment weiß ich es noch nicht. Gott, laß mir einen Deiner schöpferischen Gedanken ab … Was wissen Sie von völliger Hilflosigkeit?«
»Mehr als Sie ahnen, Doktor«, sagte Michael Pohland leise. »Vielleicht zu viel.«
»Sie haben alles, was Ihnen das Leben bieten kann.«
»Das ist ein Irrtum.«
»Was haben Sie nicht?«
»Vertrauen.«
Dr. Wehrmann drehte sich verwundert um. »Nun werden Sie mal nicht elegisch, Pohland. Vertrauen. Wem mißtrauen Sie denn so?«
»Gerda.«
Es war ein leises Wort, aber in den Ohren Dr. Wehrmanns war es wie eine krachende Explosion. Schnell musterte er Michael Pohland, stellte das leere Glas auf den Tisch und steckte die Hände in die Taschen seines Rockes.
»Wieso?« fragte er laut. Die Lautstärke war jetzt das einzige Mittel, seine Sorge zu überdecken.
»Sie betrügt mich, Doktor.«
Michael Pohland hatte sich abgewandt und starrte in den erloschenen Kamin. Die Asche, die noch um die halbverkohlten Holzscheite lag, kam ihm wie ein Sinnbild seiner selbst vor. Asche, die einmal glühte und prasselnde Flamme war.
»Blödsinn!« rief Dr. Wehrmann rauh. »Sie sollten sich einen Psychiater nehmen. Gibt es eine liebevollere Frau als Gerda? Sie stehen in der Sonne des Lebens, aber Sie vertragen anscheinend die Sonne nicht.«
»Kennen Sie Oberholzen?«
Die Frage kam plötzlich, hart, gezielt. Dr. Wehrmann senkte den Kopf wie ein Kampfstier. Er hatte sie erwartet, wenn er sich auch sagte, daß es eigentlich unmöglich sein mußte, daß Pohland von diesem Ort etwas wußte.
»Nein. Ist er ein Kollege von mir?« fragte Dr. Wehrmann zurück. Pohland sah ihn plötzlich verwirrt an.
»Wie … wie kommen Sie darauf?« stotterte er.
»Wieso nicht? Wer oder was ist Oberholzen?«
»Es kann auch ein Ort sein.«
»Natürlich. Auch das kann es. Was ist mit diesem Oberholzen?«
»Er oder es spielt im Leben Gerdas eine Rolle.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe Beweise.«
»Interessant.« Es war ein ehrliches Wort Dr. Wehrmanns. Beweise, dachte er
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