Geliebter Boss
seinen Verdacht, warum Peter einmal die Taschen voll Geld hat und einmal wieder nicht. Sie sind zwei Kumpels. Sie wissen nichts Genaues voneinander. Sie sehen sich selten. Nur alle paar Jahre. Dann erscheint Peter wie heute am Tor des Werkes oder an der Rennstrecke des Werkes, hebt die Hand und will mitgenommen werden. So haben sie sich kennengelernt.
»Was bist du eigentlich von Beruf?« fragt Apostel.
»Ich teste Autos.«
»Für Geld?«
»Sie zahlen mir keines.«
»Wovon lebst du?«
»Ich habe Wohltäter«, sagt Peter und lacht. Er sagt das Wort Wohltäter so, als hätten die Wohltäter von ihren Wohltaten keine Ahnung.
»Und wenn es eines Tages schiefgeht?«
»Keine Sorge, Apostel! Mir kann nichts geschehen. Ich bin in Rom genauso zu Hause wie in London und Madrid. Fahr zum Tor! Ich muß vor Ladenschluß noch in der Bank sein.«
Er zerrt aus der Tasche einen roten Schal und bindet ihn sich um den Hals.
»Vielleicht muß ich heute abend noch singen«, sagt er und trällert los:
»Schönes Mädchen, sieh mein Leiden...«
Es ist sechs Uhr. Birke ist noch immer in der Bank. Graßmann ist gegangen. Kassierer Seiler ebenfalls. Nur unten, am Hinterausgang der Bank, sitzt der Personalportier in seiner Loge. Hans heißt er, Hans mit Familiennamen, Otto Hans. Er war vor dem Krieg Kassenbote der Bank. Als er zurückkam, mit zerschossenem Bein, setzte man ihn in die Portiersloge. Der Personaleingang ist bei einer Bank genauso wichtig wie der Portier am Portal, wo die Kunden eintreten. Der Personalportier hat größere Vollmachten. Er kann ein verdächtiges Paket untersuchen lassen, verlangen, daß man die Aktentasche öffnet, dicke Zeitungsbündel auseinanderfaltet, Koffer darf das Bankpersonal sowieso nicht in die Bank mitnehmen, die müssen in seiner Loge abgestellt werden. Auch trägt er in seinem Buch genau auf die Sekunde das Kommen und Gehen jedes einzelnen ein.
Er kennt jeden Angestellten von Gesicht zu Gesicht. Einmal hat sich ein junger Kassierer, den er mit Bart kannte, über Nacht den Bart abrasieren lassen. Otto Hans, der ihn so verändert nicht erkannte, wollte ihn nicht an seiner Loge vorbeilassen. Sie haben damals viel über ihn gelacht. Er ist manchmal ein wenig schrullig, zugegeben. Wenn er sich im Recht fühlt, würde er am liebsten auf den Alarmknopf drücken. Aber er hat keinen Alarmknopf. Den haben sie nur oben an den Schaltern. Um acht wird er abgelöst. Dann kommen die Leute von der Wach- und Schließgesellschaft mit ihren Stechuhren und Hunden und machen die ganze Nacht ihre Runde. Er blickt auf die Uhr. Es ist genau 6 Uhr 17.
6 Uhr 18 ist es zur gleichen Sekunde auf Birkes Armbanduhr. Sie muß jeden Tag ihre Uhr am Morgen zwei Minuten zurückstellen. Das haben die Angestelltenuhren so an sich, viel Präzision kann man für das wenige Geld, das sie kosten, nicht erwarten. Wer so eine Uhr hat und es weiß, kann sich danach richten.
Birke ist mit ihrer Arbeit fertig. Sie hat ihren Schreibtisch für die Urlaubsvertretung hergerichtet, alles an den vorgeschriebenen Platz gelegt, den Terminzettel für Montag früh mit den eiligen Aufträgen obenauf, auch die Anweisungen für die laufenden, täglich anfallenden Zahlungen, nach den Wochentagen geordnet. Vor ihr liegen in dem großen Umschlag die 60 000 Mark, die sie um sieben Uhr im Hotel abgeben soll.
»Privatentnahme«, sagt sie vor sich hin und wiederholt es, »Privatentnahme«, als sie das Geld betrachtet. Ein dickes Bündel, diese 600 Hundertmarkscheine! Wenn man sie ihr unterwegs entreißt, ein Überfall am hellichten Tag, das gibt es doch heute! Wer haftet für den Schaden? Wenn sie das Geld unterwegs verliert, würde es der ehrliche Finder abgeben? Gegen Finderlohn natürlich, das wären in diesem Fall bei einer so großen Summe ein Prozent, genau 600 Mark. Ein Monatsgehalt. Das wäre fein, wenn es ein anderer verlöre und sie es fände. 600 Mark Finderlohn — und das jetzt am Tage vor ihrem Urlaub!
Was würde sie tun, wenn sie das Geld fände? Natürlich abgeben. Aber wenn man genau weiß, daß einen niemand dabei gesehen hat, da müßte man ganz sicher sein, und dann fände man diese gewaltige Summe — wer es sich leisten kann, 60 000 Mark Bargeld zu verlieren, hat bestimmt noch mehr Geld daheim. Oder auf der Sparkasse. Oder im Schrank. Oder im Strumpf. Die ganz reichen Leute haben immer Geld im Strumpf. Für alle Fälle. Wenn sie fliehen müssen oder irgend etwas passiert. Für diese Leute sind 60 000 Mark vielleicht ein
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