Geliebter Feind
aufwachte, fühlte sie sich schläfrig, träge und matt. Sie drehte sich auf die Seite, rollte sich unter den Fellen zusammen und wäre am liebsten wieder eingeschlummert, um nicht an Wirklichkeit und Gegenwart denken zu müssen.
Es war noch früh. Durch die Spalten in den hölzernen Fensterläden tastete sich das erste Tageslicht in den Raum. Die ersten Geräusche des erwachenden Haushalts drangen gedämpft an ihr Ohr. Und dann hörte sie vom Flur her einen markerschütternden Schrei. Kathryn schoß hoch. Heilige Mutter Gottes, was um alles in der Welt.. ?
Wieder hörte sie das durchdringende Kreischen. Mit pochen-dem Herzen schlug sie die Felldecken zurück, streifte sich ihre Kleidung über, schlüpfte in ihre Schuhe und rannte auf den Korridor hinaus.
Die Tür zum Gemach ihres Onkels stand offen. Kathryn wollte in den Raum laufen, blieb indes auf der Schwelle erschrocken stehen. Helga hockte laut weinend in einer Ecke. Männer umstanden Richards Bett, unter ihnen Sir Hugh. Kathryn fuhr heftig zusammen, als jemand ihren Arm berührte; es war jedoch nur Elizabeth.
„Was ist denn geschehen?" Ihre Haut war fahl, und ihre Augen schienen unnatürlich groß. „Was geht hier vor?" Ängstlich um-klammerte sie Kathryns Arm.
Einer der umstehenden Männer trat zur Seite, und jetzt konnte Kathryn auf das Bett sehen. Ihr Onkel lag nackt da. Ein roter Blutstrom ergoß sich über das Bettpolster auf den Fußboden.
Richards Kehle war durchschnitten.
Kathryn wurde es übel. „Mein Gott", stöhnte sie schwach. „Man hat ihn ermordet. Onkel Richard wurde umgebracht!"
An diesem Morgen bekam Kathryn Guy de Marche nicht zu Gesicht. Einer seiner Bediensteten teilte ihr mit, er habe die Burg kurz nach Tagesanbruch verlassen. Möge er doch nie zurückkehren, dachte sie.
Ihr Wunsch ging leider nicht in Erfüllung, denn gleich nach dem Mittagsmahl sah sie den Earl mit Sir Hugh im Hof in ein Gespräch vertieft. Der Ritter breitete gerade die Hände weit aus und schüttelte den Kopf; zweifellos sprachen die beiden über den Mord an Richard.
Der Tote wurde noch am selben Nachmittag bestattet. Grauer Nebel und Gewitterwolken zogen vom Meer her heran - genau die richtige Wetterstimmung für ein Begräbnis.
Pater Bernard aus dem Dorf hielt die Predigt am Grab. Während der Zeremonie tupfte sich die weichherzige Elizabeth gelegentlich die Augen trocken. Kathryn stand regungslos wie eine Statue daneben. Sie fühlte gar nichts, weder Haß auf Richard noch Erleichterung.
Später im Lichtgemach unter dem Dach des Wohnturms legte Kathryn ihren Umhang ab und warf ihn über einen Hocker.
Elizabeth schlang die Arme um sich, als wollte sie sich wärmen. „Ich vermag es kaum zu glauben, daß unser Onkel tot ist."
Sie fröstelte. „Hast du eine Ahnung, wer ihn umgebracht haben könnte?"
Für Kathryn kam dafür nur ein einziger Mensch in Frage. Der Earl of Sedgewick war nach Ashbury gereist, um den Tod seiner Gattin zu rächen. Er war gekommen, um Richard zu töten, und das hatte er nun getan.
Sie lachte unfroh. „Nun, was denkst du denn? Guy de Marche ist doch nur in einer einzigen Absicht hergekommen - und heute hat er sie ins Werk gesetzt."
Sie wollte noch mehr sagen, doch sie hörte ein leises Geräusch hinter sich und fuhr herum. Groß, dunkel und gebieterisch stand der Earl da.
„Lady Elizabeth", sagte er durchaus freundlich, „würdet Ihr uns bitte einen Moment allein lassen?"
Elizabeth knickste rasch und floh hinaus. Kathryn blieb kühn und mutig stehen.
Als sie allein waren, hob Guy de Marche die Augenbrauen und lächelte recht eigenartig. „Vielleicht wünscht Ihr, mich jetzt von Angesicht zu Angesicht des Mordes an Eurem Onkel zu beschuldigen."
„Glaubt Ihr etwa, das würde ich nicht tun?" Stolz richtete sie sich auf. „Ihr habt einen heiligen Eid geleistet und geschworen, daß es auf Ashbury keinen Mord geben würde. Ihr habt gelogen!
Ihr habt Richard umgebracht, und dafür werdet Ihr nun in der Hölle brennen!"
Sein Lächeln verschwand, und sein Gesicht wurde zu einer harten, kalten Maske. Er mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Nur sehr wenige Menschen hätten es jemals gewagt, ihn einen Lügner zu nennen, denn ihnen wäre eine strenge Strafe gewiß gewesen. Kathryn wollte er diese Übertretung großmütig nachsehen, allerdings nur für dieses eine Mal.
„Weshalb seid Ihr so zornig?" fragte er leise. „Man sollte doch annehmen, daß gerade Ihr sehr glücklich über
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