Geliebter Feind
standen, und das waren der Verstand und die Worte.
Wieder lauschte sie auf die Atemzüge des Earls. Sie kamen tief und regelmäßig. Dennoch wartete sie noch Stunden, um ganz sicher zu sein, daß er sich wirklich weit fort in der Welt der Träume befand.
Jetzt oder nie! Geräuschlos und mit angehaltenem Atem schlüpfte sie unter ihrem Fell hervor. Guy de Marche hatte sich kein einziges Mal darüber geäußert, daß sie stets in voller Kleidung zu schlafen pflegte, und das erwies sich als ein großer Vorteil.
Geduckt bewegte sie sich zum Zeltausgang. In diesem Moment drehte sich hinter ihr der Earl auf den Rücken. Sie erstarrte, wartete - eine Ewigkeit, wie ihr schien - und dann schlich sie weiter.
Draußen schien ein strahlender Mond und beleuchtete die Lichtung fast taghell. Die Pferde waren am Rand des Lagers in unmittelbarer Nähe der schlafenden Krieger angepflockt.
Dorthin lenkte Kathryn ihre heimlichen Schritte.
Sie fand Esmeralda, band sie los, und wenige Augenblicke später verschwanden Roß und Reiterin zwischen den Bäumen wie die Nachtgeister. Nur der Mond war Zeuge, wie Kathryn den Kopf in den Nacken legte und leise lachte. Sie war frei. Frei!
Die Flucht war nicht halb so schwierig durchzuführen gewesen, wie sie erwartet hatte.
Der Gedanke, daß alles viel zu einfach gegangen war, kam ihr überhaupt nicht.
Am nächsten Morgen erwachte Guy gleich nach Tagesanbruch.
Eine kleine Weile lag er absolut still da und betrachtete das rötliche Licht der Morgendämmerung, das durch einen Spalt in der Zeltklappe sichtbar war. Dann gähnte er ausgiebig, streckte und rekelte sich, stand auf und kleidete sich gemächlich an.
Nicht einen einzigen Blick warf er zu der leeren Schlafstatt neben seiner hinüber.
Draußen erwachte das Lager. Guy rief nach seinem Knappen Tom, der ihm das Morgenmahl bringen sollte.
„Für die Lady auch?" fragte der Junge.
Sein Herr schüttelte den Kopf. „Die Lady ist fort, Tom."
Der Knappe staunte offenen Mundes.
„Es sieht so aus, als habe die Lady beschlossen, auf ihrer Reise nach Sedgewick einen kleinen Umweg zu machen", erläuterte Guy lächelnd.
„Herr. .?"
Er mußte viel Nachsicht mit dem Knappen haben, der zwar schon recht vielversprechend mit Lanze und Schwert umzuge-hen verstand, über die Methoden eines Feindes indessen noch vieles zu lernen hatte.
„Sie ist in der Nacht geflohen, Tom", setzte er dem Jungen auseinander. „Die Lady beabsichtigt, nach Ashbury zurückzukehren."
Tom lachte. „Sie weiß wohl noch nicht, daß sie Euch niemals entkommen kann." Er lachte wieder, als hielte er die Vorstellung, eine Frau könnte seinen Herrn überlisten, für ungeheuer amüsant.
Ganz so erheiternd fand Guy das Ganze allerdings nicht. Er befahl Sir Jerome, die Männer nach Sedgewick zurückzuführen, und ritt dann selbst in entgegengesetzter Richtung.
Wenn ich Glück habe, entdeckt Guy de Marche meine Abwesenheit nicht vor dem Morgen, dachte Kathryn. Aus seinen Gesprä-
chen mit seinen Leuten wußte sie, daß man Sedgewick morgen mittag erreichen würde. So kurz vor dem Reiseziel würde er vielleicht zu der Überzeugung kommen, sie sei es nicht wert, daß er sich die Mühe machte, nach ihr zu suchen.
Der Tag versprach warm und sonnig zu werden. Die holperige Landstraße immer im Blick, ritt Kathryn im Schutz der Wälder, die sich daneben entlangzogen, denn keine anständige Frau würde ohne Begleitung reisen. Jedesmal wenn sie Hufschlag hörte, riß sie Esmeralda herum und nahm Deckung, wo immer sie sie zwischen Bäumen und Unterholz finden konnte.
Am späten Nachmittag beschloß sie, sich einen sicheren Unterschlupf für die Nacht zu suchen, solange es noch hell war. Sie fand eine kleine versteckte Lichtung, die von knorrigen Eichen umstanden war und in deren Nähe ein munterer Bach plätscherte.
Sie führte Esmeralda zum Wasser, ließ sie trinken und band sie danach an einer grasbewachsenen Stelle fest. Während das Pferd fraß, suchte sie sich Feuerholz, und als sie eine ausreichende Menge beisammenhatte, blickte sie sehnsuchtsvoll zu dem Bach hinüber.
Wildblumen wuchsen an seinem Ufer und erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Über den Baumwipfeln veränderte sich das Zwielicht der Dämmerung zu Rosa-und Goldtönen. Hier in dieser wunderschönen Umgebung merkte Kathryn, wie sich ihre Glieder langsam entspannten.
Sie erlag der Versuchung, entkleidete sich bis auf das Unterhemd und neigte sich über den Bach. Mit den Händen schöpfte sie Wasser und
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