Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
zurück, um durch dieses büchergesäumte Grab von einer Wohnung zu geistern. Sie taten ihm leid.
Eliot ging zur Tür.
Dort hing die Liste der 106 Regeln, die genauso gut 106 Meter Maschendrahtzaun und Stacheldraht hätten sein können. Jedes bisschen Mitgefühl, das er eben noch für Großmutter empfunden hatte, verflog.
Er wollte die Liste abreißen, sie zu Konfetti zerfetzen; aber die Regeln würden immer noch da sein – unsichtbar und allgegenwärtig, so unerlässlich für das Leben in Großmutters Haus wie der Sauerstoff in der Luft.
Und solche Gefühlsausbrüche führten zu nichts. Letztes Jahr hatte Eliot sich ein Radio zum Geburtstag gewünscht, nur, um die Nachrichten zu hören, wie er behauptet hatte. Er hatte versprochen, dass er keine Musik spielen würde. Er hatte gebettelt und logisch argumentiert und hatte Großmutter am Ende gesagt, dass er ein Radio kaufen würde und ihre Erlaubnis nicht brauchte.
Großmutter hatte kein Wort gesagt. Und dann hatte sie seine Tirade mit einem einzigen ihrer schneidenden Blicke unterbrochen.
Es war derselbe Blick wie gestern Abend. Er hatte vergessen, dass er diesen Blick auch schon abbekommen hatte. Es fühlte sich an, als würde einem das Herz aussetzen; nicht buchstäblich, aber er erinnerte sich, dass er vergessen hatte zu atmen, weil er so versunken gewesen war in diese unergründlichen grauen Augen.
Nach einer scheinbar unendlich langen Zeitspanne hatte Großmutter geblinzelt, und Eliot hatte wieder eingeatmet.
Die »Diskussion« über sein Radio war damit beendet gewesen. Für immer.
Wütend riss Eliot seine Schlafzimmertür auf.
Im dunklen Flur schwang Fionas Tür zur selben Zeit auf, mit genau der gleichen Kraft, so dass sich ein weiteres mattes Parallelogramm aus Licht in die Schatten ergoss.
Sie starrten einander an, dann sagte sie: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Sie tat es schon wieder, nur um ihn zu ärgern: diese geheuchelte Zwillings-Synchronizität. Eines Tages würde er herausfinden, wie sie es anstellte.
Eliots Wut legte sich allerdings ein wenig, als er sich an ihr Geschenk von gestern Abend erinnerte: die Schokolade. Nun, da er darüber nachdachte, fand er, dass es ein doppelt so großes Geschenk war, als ihm zunächst aufgefallen war. Er mochte Schokolade genauso gern wie jeder andere, aber Fiona liebte das Zeug. Wie konnte ein Mensch in dem einen Moment so nett sein und sich im nächsten wie ein ungezogenes Gör verhalten? Wahrscheinlich war das die Kurzfassung dessen, was eine Schwester ausmachte.
Wenigstens war auch sie dem modischen Desaster nicht entgangen. Fiona trug ebenfalls ihre von Cecilia angefertigte Geburtstagsgarderobe: ein rosafarbenes Kleid mit schiefen Säumen, das an der Brust eng und an der Taille zu weit saß. Eine rosafarbene Schärpe mit Schleife zog das Kleid unbeholfen um ihre Mitte zusammen. Und ein Paar weiße Turnschuhe aus dem Secondhandladen war mit lilafarbenem Filzstift in dem Versuch bemalt worden, sie passend zu machen. Fiona sah wie zerknittertes Kaugummipapier aus.
Sie versuchte erfolglos, die Falten und Beulen im Stoff glattzustreichen. Finster sah sie ihn an und fragte: »Was guckst du so? Geht es dir gut? Hypoxie? Oder schon Anoxie?«
»Mein Gehirn kriegt reichlich Sauerstoff.«
Fiona bevorzugte seit kurzem bei ihren Eröffnungen der Vokabelbeleidigung medizinische Fachbegriffe. Gut, dass Eliot in letzter Zeit die Texte zur Vorbereitung aufs Medizinstudium auf den Badezimmerregalen durchgesehen hatte.
»Du solltest von der Angiologie auf ein Forschungsgebiet wechseln, das deiner geistigen Verfassung eher entspricht«, schlug Eliot zurück. »Wie wäre es mit Limakologie?«
Fiona zog die dunklen Augenbrauen zusammen.
Er hatte sie erwischt! Der -ologie-Teil – er bedeutete »Wissenschaft von« – war geschenkt. Doch lima … damit hatte er sie. Das war selbst für ihre Verhältnisse obskur. Es würde eines der kürzesten Vokabelbeleidigungsspiele aller Zeiten werden.
Eliot ließ sie stehen, damit sie in Ruhe über der Lösung des Rätsels brüten konnte, und spazierte den Flur entlang; er ging wie auf Wolken.
Hinter ihm flüsterte Fiona: »Ein schleimiges Rätsel aus deinen entsprechend schlüpfrigen grauen Zellen.«
Eliot blieb stehen, und das Grinsen auf seinem Gesicht verflog. Sie hatte es herausbekommen? So schnell?
Er drehte sich um. »Wie?«
Eliot schloss den Mund, aber es war zu spät. Der Schaden war schon angerichtet. Er hatte die eine Anstößigkeit begangen,
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