Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
»Robert Farmington.« Ja – genau so hatte er sie von gestern Abend in Erinnerung.
Dann also zum Geschäft. Louis hatte seine Befehle, hatte Schicksale zu besiegeln und einen höllischen Pakt zu erfüllen.
Zunächst einmal würde er sich um seine Tochter kümmern und sie, wie verlangt, ins Neujahrstal verbannen.
Er fühlte sich ein wenig schuldig. Nicht, weil er im Begriff war, sie womöglich für immer in einem Schattenreich einzusperren, sondern weil er für sie nicht dasselbe empfand wie für Eliot. Vielleicht erinnerte sie ihn zu sehr an ihre Mutter. Egal. Sobald sie im Neujahrstal war, würde er alle Zeit der Welt haben, um sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen.
Louis fand Uris Handy, suchte die Telefonnummer der Posts und wählte.
Nach Fiona würde Eliot an die Reihe kommen. Ganz gleich,
was Louis’ persönliche Pläne mit sich brachten, er musste seinen Sohn um jeden Preis verraten und Beal ausliefern.
Das Telefon klingelte; die Verbindung war hergestellt.
»Hallo?«, sagte Louis. »Hier ist Robert Farmington. Könnte ich bitte Fiona sprechen?«
67
Arger im Verzug
In Fionas Zimmer herrschte Chaos. Ihre Besitztümer lagen überall auf dem Boden verstreut, und sie hatte einen Berg schmutziger Kleidung mit einem Tritt in die Ecke befördert. Wenn noch irgendjemand in diesem Haus auf die Einhaltung von Regel 16 bestand, würde alles, was Fiona besaß, in den Müllschlucker wandern.
Das war komisch. Warum machte sie sich nach drei Prüfungen auf Leben und Tod noch Sorgen um ihre materiellen Besitztümer?
Und doch war es nun einmal so.
Sie hob ihre Sammlung von Büchern über Römische Geschichte auf und stellte sie zurück ins Regal. Bücher hatten eine bessere Behandlung verdient. Wenn sie das nächste Mal wütend war, würde sie ihren Zorn an etwas auslassen, das ihn verdiente.
Aber das war das Seltsame heute Morgen: Sie empfand nichts .
Seit sie sich im Spiegellabyrinth geschnitten hatte, war es immer schwieriger geworden, sich traurig, ängstlich oder sogar glücklich zu fühlen. Wut war die einzige Emotion, die mühelos kam. Aber das war nicht gut. Sie konnte nicht den Rest ihres Lebens durch die Gegend laufen und wütend sein.
Wenn sie die Augen schloss und sich konzentrierte, konnte sie einen Funken Freude und Hoffnung spüren. Die Prüfungen
der Liga waren vorüber. Die Liga musste sie nun als Familienmitglieder akzeptieren … oder auch nicht. Sie konnte beinahe hören, wie sie jetzt über sie verhandelten.
Wenigstens waren die Prüfungen vorbei. Keine Abenteuer mehr aus heiterem Himmel mitten in der Nacht.
Während sie über die Liga und ihre neuen entfernten Verwandten nachdachte, ließ die Konzentration auf die Glücksgefühle nach.
Sie richtete ihren antiken Globus auf und drehte ihn so, dass der Pazifik und Mikronesien ihr zugewandt waren.
War das die Losgelöstheit, über die Großmutter stets zu verfügen schien? Cee hatte ihr erzählt, dass auch Großmutter sich selbst einen Schnitt beigebracht hatte. Fiona bezweifelte aber sehr, dass auch sie ihren Appetit durchtrennt hatte. Wie viele endlose, verfluchte Pralinenkästen konnte es schon geben?
Fiona erinnerte sich, welches die Momente gewesen waren, in denen sie sich gut gefühlt hatte. Sie durchwühlte ihre schmutzigen Kleider, zerriss ihre Jogginghosen und zog einen einzelnen Baumwollfaden daraus hervor.
Schneiden.
Das würde dafür sorgen, dass sie wieder etwas empfand. Mit zunehmender Regelmäßigkeit verschaffte es ihr Befriedigung, Dinge zu zerschneiden.
Sie zog den Faden straff und konzentrierte sich. Die Faser verdrehte sich von Ende zu Ende, wurde schärfer, bis sie zu verschwinden schien: eine Kraftlinie, die in der Luft Wellen schlug.
Fiona sah sich in ihrem Zimmer um und suchte nach etwas, das sie zerstören konnte.
Bücher, Schreibmaschine, Möbel … das alles schätzte sie zu sehr. Sie seufzte. Noch mehr Unordnung – genau das, was ihr jetzt noch fehlte.
Sie entspannte sich, und die Schnur erschlaffte.
Vielleicht war es besser, nichts zu spüren, als Freude darüber zu empfinden, dass man etwas Kostbares zerstörte.
Fiona spielte mit dem Faden und schlang ihn um beide Hände. Sie erinnerte sich daran, wie Dallas ihr den Trick gezeigt
hatte, ihr Leben zu sehen. Und wie sie das Ende dieses Lebens gesehen hatte.
Sie starrte den Faden an, ließ ihn vor ihren Augen verschwimmen und wieder in ihr Blickfeld kommen, so, als würde sie ihn nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen.
Der Faden verschwamm zu
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