Georgette Heyer
Frisiermantel gehüllt vor ihrem Toilettentisch. Ihr
Haar war erst zur Hälfte in die komplizierte Frisur gelegt worden, die sie
bevorzugte. Sie war eine dicke, gutmütig aussehende Dame, und als sie sich
erhob, um Nell zu begrüßen, sah es aus, als quelle sie aus ihrem Stuhl hervor.
«Ach, meine liebe Lady Cardross, bitte treten Sie näher und verzeihen Sie, wenn
ich Sie im tiefsten Negligée empfange. Ich wollte Sie aber nicht warten
lassen, während ich mich in meine Toilette zwänge, und so befahl ich Thomas,
Sie direkt zu mir heraufzuführen.»
«Das ist
sehr liebenswürdig von Ihnen. Ich hätte Sie nie zu so unschicklicher Zeit
überfallen dürfen», sagte Nell, ihr die Hand reichend. «Kann ich Sie ein paar
Minuten unter vier Augen sprechen?»
«Ja, meine
Teure. Ja, ja, selbstverständlich. Betty, sehen Sie nach, ob Miss Fanny bereits
angekleidet ist. Ich werde klingeln, wenn ich Sie wieder brauche. Und bringen
Sie einen Stuhl für Mylady, bevor Sie gehehen. Bitte nehmen Sie Platz, Lady
Cardross.» Sie selbst sank in ihren Stuhl vor dem Toilettentisch zurück und
sagte, fast ehe die Zofe das Zimmer verlassen hatte: «Erzählen Sie mir sogleich
alles, meine Liebe. Als Thomas mir meldete, daß Sie unten wären, überkam mich
eine sonderbar böse Vorahnung! Und ich sehe es Ihrem Gesicht an, daß ich recht
hatte.»
«Ich weiß
es nicht – und hoffe es auch nicht. Mrs. Thorne, war Letty heute bei Ihnen?»
«O du
gütiger Himmel!» rief Mrs. Thorne. «Als hätte ich es nicht geahnt! Nein, meine
Liebe, ich habe Letty nicht gesehen, seit sie uns vorige Woche besuchte. Sagen
Sie nur nicht, daß sie mit dem jungen Allandale durchgegangen ist. Warten Sie!
Wo ist mein Riechsalz? So! Und jetzt erzählen Sie mir alles.»
Das
Riechfläschchen fest umklammernd und ihr heftiges Herzklopfen dadurch
bekämpfend, daß sie häufig an dessen aromatischem Inhalt roch, gelang es ihr,
ohne den verschiedenen nervösen Zuständen zu erliegen, welche sie
hinzustrecken drohten, der Geschichte zu lauschen, welche ihr Nell jetzt
enthüllte. Sie war außer sich, unterbrach die Erzählung durch Stöhnen und
entsetzte Ausrufe, doch sie konnte Nell durch nichts behilflich sein, weil sie
tatsächlich nichts wußte. Sie hatte Mr. Allandale nie ermutigt; Mädchen
flirteten gern, und darin war nichts Böses zu finden; doch als sie erfuhr, daß
Letty sich als Verlobte eines jungen Mannes betrachtete, der keinen Penny sein
eigen nannte und auch keine erwähnenswerten Aussichten hatte, war sie nie im
Leben ärger aus der Fassung geraten.
Nell sah
sich genötigt, ihren Redeschwall zu unterbrechen und sie zu bitten, Selina
rufen zu lassen. Mrs. Thorne war zwar völlig einverstanden, konnte sich jedoch
nicht vorstellen, daß Selina imstande sei, Licht in das Geheimnis von Lettys
derzeitigem Aufenthaltsort zu bringen. Als sie von dem am Nachmittag
stattgefundenen Rendezvous in der Bond Street erfuhr, konnte sie es kaum
fassen, daß etwas Derartiges wirklich geschehen war. «Selina sollte in die Bond
Street gegangen sein? Nein, das können Sie doch nicht im Ernst meinen, Lady
Cardross. Etwas Derartiges habe ich noch nie gehört. Es ist zwar richtig, die
Mädchen werden nicht mehr so streng gehalten wie zu meiner Zeit – als ich noch
jung war –, denn ich durfte keinen Schritt aus dem Haus machen, außer meine
Mama oder meine Gouvernante begleiteten mich. Das war schon recht ärgerlich,
das kann ich Ihnen versichern. Ich hatte daher beschlossen, meine Töchter
nicht so zu behandeln, und ich tat es auch nicht, aber sie ohne Begleitung
einer ihrer verheirateten Schwestern oder Bettys in der Stadt herumlaufen zu
lassen, nein, das übersteigt bei weitem die Grenze. Du guter Gott, was werden
die Leute sagen? Es ist nicht auszudenken! Und sollte ich entdecken, daß
Martha die Wahrheit sagte – was ich aber nicht glauben kann –, dann erkläre ich
feierlich, Selina kommt in Miss Puttenhams Pensionat, mag sie sagen, was sie
will! Das verlangte auch Mr. Thorne, als uns Miss Woodbridge verließ, doch Selina
bat uns so flehentlich, davon abzusehen – nun, und da haben wir die Bescherung!
Aber diese Martha würde alles behaupten! Verlassen Sie sich darauf, meine liebe
Lady Cardross, Selina weißt nicht mehr darüber, wo ihre Cousine ist, als der
Mann im Mond.»
Doch als
Selina kurz darauf das Zimmer betrat, war es ihrer zärtlichen Mutter sogleich
klar, daß sie genau wußte, weshalb man sie gerufen hatte. Sie war sichtlich
erregt und völlig bereit, um
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