Gerechtigkeit fuer Igel
Einwanderungspolitik zum Beispiel –, wenn sie eigentlich nur meinen, daß die Öffentlichkeit die entsprechende politische Maßnahme wünscht oder daß es ihres Erachtens in unserem Interesse wäre, wenn diese Maßnahme umgesetzt würde. Manchmal wird die Idee eines politischen Rechts aber auch in einer stärkeren und präziseren Weise verwendet, wenn behauptet wird, daß bestimmte Interessen bestimmter Menschen
556 so gewichtig sind, daß diese Interessen selbst vor politischen Maßnahmen geschützt werden müssen, die der Gemeinschaft als Ganzer zugute kommen würden.
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Um dieser Idee Kontur zu verleihen, könnten wir sagen, daß es sich bei politischen Rechten um Trümpfe handelt, die ansonsten überzeugende Rechtfertigungen für politisches Handeln ausstechen.
2 So ist eine politische Maßnahme normalerweise dann gerechtfertigt, wenn sie zum Beispiel die Gemeinschaft sicherer macht, indem sie die Zahl der Gewaltverbrechen verringert: Das ist eine gute Alles-in-allem-Rechtfertigung dafür, die Steuern zu erhöhen, um mehr Geld in die Polizei zu investieren. Die Verbesserung der Sicherheit stellt aber keine angemessene Rechtfertigung dafür dar, unpopuläre Äußerungen im öffentlichen Raum zu unterbinden oder Terrorismusverdächtige zeitlich unbegrenzt zu inhaftieren, ohne die gegen sie erhobenen Vorwürfe der richterlichen Überprüfung zugänglich zu machen. Derartige politische Maßnahmen verletzen politische Rechte: das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, nicht ohne faires Gerichtsverfahren bestraft zu werden. Dieses Verständnis von Rechten als Trümpfen stellt das politische Äquivalent der am weitesten verbreiteten Bedeutung dar, die dieser Idee im Bereich der persönlichen Moral zukommt. So kann ich zum Beispiel sagen: »Ich weiß, daß Sie mehr Gutes für mehr Menschen tun könnten, wenn Sie Ihr mir gegebenes Versprechen brechen würden. Dennoch habe ich ein Recht darauf, daß Sie es halten.« In diesem Kapitel geht es um politische Rechte im Sinn von Trümpfen. Es handelt also nur von einem Teil der politischen Moral und vernachlässigt die sehr viel umfassendere Frage, was allgemein betrachtet gute Gründe dafür sind, daß eine politische Gemeinschaft ihre Zwangsgewalt auf die eine und nicht auf die andere Weise ausübt. Wir behaupten, die Regierung sollte Handelsverträge abschließen, weil sie gut für die US -amerikanische Handelsbilanz sind, Bauern finanziell unterstützen, weil das die Wirtschaft insgesamt ankurbeln wird, oder die Todesstrafe abschaffen, weil sich unsere Gesell
557 schaft damit selbst erniedrigt. Bei vielen derartigen Behauptungen handelt es sich um informelle Versionen utilitaristischer Tradeoff-Argumente. Wir räumen ein, daß ein neuer Flughafen die Situation derjenigen verschlechtern wird, die in seiner Nähe leben, bestehen aber dennoch darauf, daß sein Bau im allgemeinen Interesse ist, weil sehr viel mehr Menschen direkt und indirekt von ihm profitieren würden. Aber nicht jede Behauptung, daß etwas im allgemeinen Interesse liegt, bezieht sich auf ein utilitaristisches Argument. So könnten wir zum Beispiel denken, daß die Todesstrafe selbst dann nicht gerechtfertigt wäre, wenn sie zur Senkung der Mordrate und damit zu einem Nettozugewinn an Glück führen würde, weil die moralische Schande, die das staatlich organisierte Töten für die Gemeinschaft selbst bedeutet, stärker wiegt als das mit einem geringen Anwachsen der Mordrate einhergehende Leid.
Auch wenn ich an dieser Stelle nicht näher auf diese Rechtfertigungen politischen Handelns eingehen werde, ist es wichtig, deren Variationsbreite und Unterschiedlichkeit im Gedächtnis zu behalten, während wir uns unserer gegenwärtigen Frage zuwenden. Welche individuellen Interessen könnten so wichtig sein, daß sie all diese unterschiedlichen Rechtfertigungen übertrumpfen? Für Utilitaristen und andere Konsequentialisten, denen zufolge es in Fragen der Gerechtigkeit notwendigerweise um Aggregation – also um die Steigerung des Wohlergehens der Gemeinschaft als Ganzer – geht, ist die richtige Antwort: keine. Da wir die aggregative Sichtweise bereits zurückgewiesen haben, können wir die Frage jedoch als offen betrachten. Sind irgendwelche Interessen von konkreten Individuen als so wichtig zu erachten, daß sie das allgemeine Wohlergehen oder andere Alles-in-allem-Rechtfertigungen übertrumpfen können, und wenn ja, um welche handelt es sich dann und warum ist das der Fall? Tatsächlich
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