German Angst
Vielleicht war er tatsächlich zu nachsichtig, nein, er brauchte sich nichts vorzumachen, er war nachsichtig. Ich schaffe es einfach nicht sie zu bestrafen, wenn sie die Regeln nicht einhält, ich will sie nicht gängeln, auf keinen Fall will ich, dass sie sich von mir eingesperrt und wie ein unmündiges Kind behandelt fühlt. Lucy war weit entwickelt für ihr Alter und sie hatte mehr durchgemacht als die meisten ihrer Mitschüler.
Nach dem schauerlichen Tod seiner Frau Linda vor fast vier Jahren und den Wochen danach, in denen er die Sprache verloren hatte und sich nur schriftlich mitteilen konnte, schwor sich Christoph Arano, seine Tochter nie mehr einem ähnlichen Grauen auszusetzen und ihr jederzeit, jeden Tag und jede Nacht, die Freiheit zu lassen, alles zu tun, was sie wollte. Er hatte ihr das nicht gesagt, er hatte es sich nur vorgenommen und hoffte, er könne damit den Schrecken von ihr nehmen, der sie seit jener Zeit gefangen hielt. Niemand wusste das so gut wie er und nicht einmal sie selbst ahnte, woher ihre Wut und ihre unkontrollierbaren Aggressionen kamen, denen sie ebenso ausgeliefert war wie die Menschen, auf die sie losging. Natürlich riet ihm sein Arzt zu einem Psychologen zu gehen. Aber er hatte kein Vertrauen, und Lucy hatte auch keins. Alles keine Entschuldigungen für ihre Ausbrüche, für ihr rücksichtsloses Verhalten, wie er sich eingestand. Aber er war davon überzeugt, sie würde sich eines Tages bessern, sie würde begreifen, dass sie so nicht weiterleben konnte, sondem die Gemeinschaft akzeptieren musste, der sie angehörte, in der Schule, im Alltag, in der Gesellschaft. Dann würde die Folter ihrer Erinnerung enden, davon war Arano überzeugt, und von diesem Moment an würde sie niemanden mehr anlügen, überfallen und ausrauben. Eine verwundete Seele heilt langsam, aber sie heilt, hatte seine Großmutter Sola gesagt, und daran glaubte er. Auch seine tiefen Wunden waren beinahe verheilt und er hatte die Zeit nicht vergessen, als er sich sicher war, er würde den Schmerz nie überwinden, bis zum Ende seines Lebens nicht.
Lucy küsste ihn auf beide Wangen und auf die Stirn.
»Morgen ist letzter Schultag, da geh ich hin«, sagte sie fröhlich und schob Jimmy aus der Tür ins Treppenhaus. Dann drehte sie sich noch einmal um und sah Natalia an.
»Schönes Kleid, echt!«
»Wann kommst du zurück?«, rief Natalia.
»In zwei, drei Stunden, okay?«
Das Klacken ihrer Schuhe auf den Steintreppen verhallte, die Haustür fiel ins Schloss und man hörte nur noch die leisen Geräusche eines Fernsehers in irgendeiner Wohnung.
»Wieso hast du ihr nicht verboten wegzugehen?«
Natalia setzte sich an den Tisch im Wohnzimmer. Vor der Stereoanlage nahm Arano eine CD aus der Hülle.
»Sie ist bald wieder da«, sagte er.
»Scheiße!«, sagte Natalia. Sie schniefte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, dass sie jetzt heulte. Musik von Vivaldi erklang, eines ihrer Lieblingsstücke.
»Komm!«, sagte Arano. Er streckte seine Hand aus.
»Was ist?«
»Komm!«
Einen Moment zögerte sie, putzte sich mit der Serviette die Nase ab und stand auf. Arano legte den Arm um sie und begann zu tanzen. Langsam, langsamer als der Rhythmus der Musik. Natalia wehrte sich ein wenig, dann gab sie nach und lehnte den Kopf an seine Schulter.
»Ich versteh dich nicht«, sagte sie leise. Schweigend tanzten sie im Kreis.
»Wir müssen der Polizei sagen, dass Lucy wieder aufgetaucht ist«, sagte sie.
»Ja«, sagte er, »aber es gibt noch etwas Wichtigeres.«
Zu den Violinen von Vivaldis »Frühling« nahm Arano ihre Hände, blieb vor ihr stehen und sagte: »Willst du mich heiraten, Natalia?«
Sie lächelten beide nicht.
Natalia hörte den Geigen zu, dem Cello, dem Cembalo, sie sah den Apfelbaum hinter ihrem Haus, ihren unerschütterlichen Begleiter, den kein Winter brechen konnte, und auf der Straße rasselte Maja mit der Fahrradklingel, die Dinge waren alle an ihrem Platz. So wie sie.
»Willst du in Ruhe darüber nachdenken?«, fragte Arano. Er hielt immer noch ihre Hände und wartete darauf, dass sie ihn wieder anschaute.
»Nein«, sagte sie. Für einen Moment senkte sie den Kopf, dann blickte sie Arano entschlossen in die Augen.
»Du bekommst eine fünfzehn Jahre ältere Frau, weißt du das?«
»Natürlich.«
»Vielleicht bin ich deiner Tochter nicht gewachsen.«
»Wir werden sehen. Sie mag dich.«
»Manchmal.«
Sie ließ seine Hände los, drehte sich herum und lehnte sich an ihn. Dann griff sie wieder nach
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