Gern hab ich Sie bedient: Aufzeichnungen des Oberkellners im Hotel Vier Jahreszeiten Hamburg (German Edition)
weitläufigen Sätzen zu sprechen. Zwischen den einzelnen Wörtern machte er oft längere Kunstpausen. Aus Luftnot oder um mir Zeit zu geben, das Gesagte zu verarbeiten? Dieser Mann wusste eigentlich auf jede Frage eine Antwort. Zumeist auch die richtige. Ein lebendiges Lexikon.
An einem dieser Abende hatte ich für jeden von uns sechs Austern mitgebracht, geöffnet und auf Eis serviert. Pali aß langsam. Zwischen den Austern erzählte er. Auf meine Frage: »Wie viele Auster, glaubst du, hast du in deinem Leben schon gegessen?«, antwortete er: »Ich glaube, ein ganzes Meer.« Seine Sätze, seien sie auch noch so lang und verschachtelt, waren stets druckreif. Man hätte sie ohne Korrektur notieren und veröffentlichen können. Er hätte seine Geschichten aufschreiben sollen. Sie wären interessanter, flirrender, als die meinigen. An diesem Abend berichtete er mir, dass es ihm kurz zuvor sehr schlecht gegangen sei. Der Arzt habe ihm hinterher mitgeteilt: »Es war knapp, Sie waren kurzzeitig klinisch tot.« – »Der kurze Tod«, fuhr er fort, »war wunderbar.« Er habe sich »himmlisch« gefühlt. Dann fügte er hinzu: »Wenn Sterben so ist, dann kann ich es sehr empfehlen.«
Als er vier von den sechs Austern gegessen hatte, schob er den Teller weg. Auf meine erstaunte Frage: »Sind die Austern heute nicht gut?«, antwortete er: »Doch, doch, aber ich habe schon genug gegessen.« Bei meinem nächsten Besuch brachte ich keine Austern mit. Als er es bemerkte, sagte er leise: »Danke, dass du keine Austern mitgebracht hast. Ich habe mich beim Besuch vorige Woche mit den letzten vier Stück von den Austern verabschiedet.«
Mein nächster Besuch fand im Israelitischen Krankenhaus statt. Er lag im verdunkelten Zimmer mit vielen Schläuchen an Geräte angeschlossen, konnte nicht mehr sprechen. Einige Stunden danach ist er verstorben.
Mit einer guten Freundin von Pali, Margarete Kolwe, genannt Deta, bin ich weiterhin befreundet. Deta hat eine Enkelin, Louise. Louise hat Geburtstag. Es soll ein besonders schöner Festtag werden. Darum hat ihr Vater für die Feier, zu der zwölf Gäste geladen sind, den Grill im Vier Jahreszeiten vorgesehen. Die Tafel ist mit exquisiten Blumenarrangements, feinstem Porzellangeschirr, Silberbesteck und allerlei kleinen Geschenkschächtelchen festlich gerichtet. Der Aperitif in der Hotelhalle ist getrunken, und die Gesellschaft kommt nun in den Grill, steuert den vorbereiteten Tisch an. Louise, besonders schön geputzt, geht voran und Deta, ihre über alles geliebte Großmutter, hinterher. Der wunderschöne Parkettboden, glänzend und glatt, bietet den hohen, dünnen Absätzen von Detas Schuhen eine hervorragende Rutschbahn, und es kommt, wie es kommen muss: Deta schlittert hin und liegt flach auf dem Boden. Großer Schreck!
Elf Paar Hände verhüllen, Schreckliches befürchtend, ihre Gesichter. Die kleine Louise behält als eine der wenigen die Nerven und sagt zaghaft: »Omi, warum legst du dich schon schlafen?« Während drei bis vier Leute versuchen, Deta hochzuziehen – was nicht viel Mühe kostet, Deta ist eine schlanke, jung gebliebene Großmutter –, nehme ich ein Glas Rosé-Champagner und reiche es der nun wieder stehenden mädchenhaften Großmutter, worauf sie sagt: »Rosé-Champagner ist jetzt nützlicher als eine rosarote Brille, dafür lohnt es sich sogar hinzufallen.«
Auf zum Isemarkt!
Lustig lachender Blick. Die Farbe Lila dominiert. Schmal geschnittenes Prada-Kleid, figurbetont. Wie kann man auf diesen hohen Absätzen so zielstrebig gerade gehen? Eine Frau, die weiß, was sie will. Das kurze dunkle Haar ist zufällig . Charisma und Charme im Überfluss. Wie ein Model der impressionistischen Skagenmaler Anna und Michael Ancher. Rechts und links flankiert von Tochter und Sohn. Wohlerzogen, herausgeputzt, zurechtgerückt, der Benimm penibel einstudiert. Großes hat die alleinerziehende Mutter geleistet, die doch alle Himmel und Höllen durchlebt hat. Ganz oben war und auch ganz unten. Doch sie hat es sich und der Gesellschaft bewiesen: Ich kann’s, und das sollt ihr wissen.
Oben und unten, elitär und bodenständig, abgehoben und schlicht, Ulrike Krages hat die Welt kennengelernt, nichts ist ihr fremd, und für sie gibt es keine Berührungsängste. Sie ist ein Chamäleon: Architektin, Designerin und nie ermüdende Vertreterin des guten Geschmacks – das ist die eine Seite von ihr. Dann wechselt sie die Farbe und wird zur völlig unprätentiösen Lady, die zu Fisch, Fleisch
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