Gerron - Lewinsky, C: Gerron
nächster Text gewesen. «Dann will ich dir was zu lachen geben.» Ohrfeigen, Prügel, Tritte.
Aber er war noch jung und kannte die Regeln nicht. Hatte einen Befehl bekommen, den er nicht verstand. Wollte auf keinen Fall etwas falsch machen. Ein hilflos wiehernder Häftling war in seinem Drehbuch nicht vorgesehen. Ein Judski, der nach Luft schnappte, weil ihn das hysterische Gelächter so durchschüttelte. Häftlinge lachen nicht. Man lacht über sie, wenn sie sich vor Angst in die Hosen scheißen.
Ein Mann, der in Vught gewesen war, bevor man ihn nach Westerbork brachte, hat mir erzählt, dass die SS dort den Sommernachtsball erfunden hat. Man flößt Häftlingen Rizinus ein und zwingt sie zu tanzen. Deutscher Humor.
Der picklige SS-Mann war in Sadismus noch nicht geübt. Hatte wohl den Einführungskurs beim kleinen Korbinian verpasst. Fragte mich doch tatsächlich, was ich so komisch fände. Ließ sich das Problem tatsächlich erklären. Dass mir das Bild überhaupt nichts nütze. Dass hier jemand den Herrn Obersturmführer falsch verstanden haben müsse. Dass der Herr Obersturmführer nicht glücklich sein würde mit der Art, in der man seine Befehle ausführte. Dass es vielleicht empfehlenswert wäre, beim Herrn Obersturmführer nachzufragen.
Er war wirklich ein Anfänger. «Du rührst dich nicht von der Stelle», befahl er. Und ging hinaus. Ließ mich allein. Ich konnte hören, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Mein Bruder macht im Tonfilm die Geräusche.
So wie mich gerade noch das Lachen gepackt hatte, krallte sich nun die Panik in mir fest. Die wichtigste Regel, die man in einem Lager lernt, heißt Nicht auffallen! Immer in der zweiten Reihe stehen, nie in der ersten. In der Masse verschwinden. Schlimm genug, dass ich ein Plakat-Gesicht habe, einen Namen, den sogar Rahm kennt. Jetzt war ich aufgefallen. Mehr als das. Hatte mich so verhalten, dass man es als Widerstand auffassen konnte. Als Befehlsverweigerung. Es war ohne Absicht geschehen, natürlich, aber das entschuldigt nichts. Nicht hier. Wir wurden auch alle ohne Absicht als Judskis geboren.
Ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten, aber ich wagte nicht, mich hinzusetzen. Judenarsch auf SS-Stuhl – das wäre ein noch unverzeihlicherer Frevel gewesen als mein Gelächter. Ich kauerte mich auf den Boden. Versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Das Herz ruhiger schlagen zu lassen. Schauspielerübungen gegen Lampenfieber. Es muss ausgesehen haben, als ob ich andächtig vor dem Theresienstadt-Bild kniete. Oder vor dem Photo von Heinrich Himmler.
Keine Ahnung, wie lang das dauerte. Kürzer, als es mir vorkam.
Dann plötzlich der Geruch von Kaffee. Nicht das Eichelgebräu, das sie hier so nennen. Richtiger Kaffee, frisch gemahlen und aufgebrüht. Ein Duft wie ein alter Freund.
Jemand rüttelte an der Klinke. Ein Durcheinander von Frauenstimmen. Hier sollte für das Frühstück aufgedeckt werden, und mein SS-Mann hatte die Tür abgeschlossen. Mein SS-Mann . Ein falscheres Possessivpronomen kann nie jemand gedacht haben. Er war hinausgegangen, um Anweisungen zu holen. Konnte jeden Augenblick wiederkommen.
Ich rappelte mich auf. Nahm vorsorglich Achtungsstellung ein. Baute Männchen, wie mir Friedemann Knobeloch das beigebracht hatte. Richtete mich zuerst zur Eingangstür hin aus und korrigierte dann ein bisschen nach links. Nie direkt in die Augen sehen . Auch so eine Lagerregel.
Als er dann kam, bewegte er sich ganz anders als beim Weggehen. Sicherer. Er hatte neue Befehle bekommen, das stärkte ihm den Rücken. Er winkte mich zu sich, wortlos. Packte mich an der Schulter. Schob mich vor sich her aus der Tür. Durch ein Spalier von Frauen mit Kaffeekrügen und Brotkörben.
Der Duft von frischem Brot.
Die Treppe hinunter. Zu Rahm? Nein. Die zweite Treppe, zum Eingangsflur. Die dritte.
In den Keller. Wo die Schreie herkommen.
Eine Zelle ohne Pritsche oder Stuhl. Ohne Fenster. Wände und sonst nichts. Nicht größer als ein Klo.
Stieß mich hinein. Schloss die Tür. Zwei Schlösser und ein Riegel.
Ein schmaler Streifen Helligkeit unter der Tür.
Man konnte sich an die Wand lehnen oder auf den Boden hocken. Mit angezogenen Beinen. Kein Platz, um sie auszustrecken.
Ich will mich nicht an die Angst erinnern, die ich empfand. Sie wird mich wohl nie wieder ganz loslassen. Man spürt sie im Magen, und man spürt sie im Kopf. Die Angst und die Erinnerung an den Graben, in dem ich verschüttet war.
Ich habe nur einen einzigen Menschen
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