Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Lächeln. Ich fragte mich, was Gemmeker wohl früher gewesen war.
Ich habe es dann später erfahren. Polizist ist er gewesen.
«Ich habe Sie nicht wegen der Revue zu mir gebeten», sagte er. Gebeten. «Ich mische mich da nicht ein. Lasse mich bei den Vorstellungen gern überraschen. Es geht um etwas anderes. Um einen Gefallen, den Sie mir tun könnten.» Ein Gefallen. Gemmeker.
Er habe da einen Freund, sagte er und wirkte fast ein bisschen verlegen, einen Kameraden, der leite wie er ein Lager, «ein Ausbildungslager allerdings», in Ellecom, und dem wolle er mich gern zum Geburtstag schenken. Genau so sagte er es. Mich zum Geburtstag schenken. Dieser Hauptsturmführer Brendel sei ein großer Bewunderer von mir, seit der Dreigroschenoper , und habe ihn schon mehrmals gefragt, ob ich denn immer noch nicht in Westerbork sei. Dann würde er gern einmal herfahren und sich eine Revue ansehen. «Nun will ich ihn zu seinem Geburtstag überraschen», sagte Gemmeker. «Sein vierzigster, am 9. Oktober. Der wird groß gefeiert, und da hab ich mir gedacht: Das wäre doch eine Gelegenheit. Sie treten auf und singen den Mackie-Messer-Song. Ein Orchester haben sie dort. Nicht so gut wie unseres, natürlich, aber ganz brauchbar.»
Verrückt. Aber man hat Verrückteres erlebt.
«Na, was meinen Sie? Wollen Sie mir den Gefallen tun?»
Er ist ein höflicher Mensch, der Lagerkommandant Gemmeker. Fragte mich, als ob ich eine Wahl hätte. Als ob nicht jede Woche ein Deportationszug zu füllen wäre.
Ja, sagte ich, wenn er es wünschte, würde ich ihm gern den Gefallen tun.
«Sehr lieb von Ihnen», sagte er. «Sie können da ganz allein hinfahren. Ich stelle Ihnen die notwendigen Papiere aus und lasse sie am Samstag nach Beilen zum Zug bringen. Am Sonntagabend sind Sie dann wieder zurück. Pünktlich, bitte. Ihre Frau bleibt so lang hier.» Er lächelte immer noch, aber was er meinte, war klar. Olga war das Pfand für meine Rückkehr. Seine Geisel. Wenn ich ihm seinen Gefallen nicht tat, oder wenn ich nicht rechtzeitig wieder in Westerbork erschien, würde sie dafür bezahlen. Und es gab hier nur eine Währung: den Platz im nächsten Zug.
«Ich hatte bisher noch nicht das Vergnügen, Ihre Frau Gemahlin kennenzulernen», sagte Gemmeker. «Grüßen Sie sie bitte unbekannterweise ganz herzlich von mir.»
Sie gaben mir einen Koffer mit. Mit Frackhemd, Frack und Lackschuhen. Was den Theaterfundus anbelangte, war man in Westerbork besser ausgestattet als an der Schouwburg. Ich kannte den Garderobier. Auch einer aus Berlin. «Sie sollen in Ellecom Ehre für uns einlegen», sagte er bei der Anprobe. Ganz ohne Ironie. Wenn ich nicht stolz bin, bin ich doch in Westerbork. Bin ich lieber stolz.
Die Eisenbahnfahrt war unangenehm. In Amsterdam waren die Menschen an den gelben Stern gewöhnt. Hier in der Provinz staunten sie mich an wie ein fremdartiges Tier. Drehten aber immer gleich die Köpfe wieder in eine andere Richtung. Als ob sie mich durch Wegschauen unsichtbar machen könnten.
Nach meiner Reiseerlaubnis wurde ich kein einziges Mal gefragt, auch nicht von der Grünen Polizei. Sie nahmen wohl an, dass kein Judski es wagen würde, ohne ausreichende Bewilligung unterwegs zu sein.
In Meppel musste ich umsteigen. Auf dem Bahnsteig, wo ich auf den Zug in Richtung Arnheim wartete, bauten sich drei Leute mit NSB-Abzeichen vor mir auf. Breitbeinig. Mit verschränkten Armen. Ich stellte vorsorglich meinen Koffer ab. Man kann Schlägen besserausweichen, wenn man die Hände frei hat. Aber sie hatten keine Prügelei im Sinn. Musterten mich nur. Vielleicht, dachte ich, sind sie vorher noch nie einem Juden begegnet. Wundern sich, dass ich keine Hörner habe und keine Bocksfüße. Eine ganze Weile sagte keiner von ihnen etwas. Dann räusperte sich der mittlere, ein Mann um die sechzig. «Es tut mir leid, Sie in diesem Zustand zu sehen», sagte er.
«Tatsächlich?»
«In lebendem Zustand, meine ich.» Die beiden andern nickten, ernsthaft und ohne Gelächter, und dann wendeten sich alle drei ab. Gingen weg. Ließen mich stehen. Leute, die ihre Pflicht getan hatten.
Wie hatte Otto das genannt? Braune Soße im Hirn.
Meine Station hieß Dieren-Doesburg. Hier würde ich abgeholt werden, hatte man mir gesagt. Als ich aus dem kleinen Bahnhof kam, stand da ein riesenhafter uniformierter Mann. «Herr Gerron!», rief er. «Das ist eine Überraschung, gell?»
Der kleine Korbinian.
Er freute sich ungeheuer. Hätte mich beinahe umarmt. «Das hätten Sie
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