Gerron - Lewinsky, C: Gerron
Drehbuch zu schreiben: «Mein Name ist Olga Meyer; bitte ziehen Sie die Hosen aus.»
Als Dreizehnjähriger, damals im Portrait-Atelier an der Friedrichstraße, hatte ich wenigstens meinen ersten richtigen Anzug an. Jetzt stand ich im Hemd da, alles andere als nonchalant, und presste meinen nackten Unterkörper gegen kaltes Metall. Olga brachte die Gliederpuppe, die sie photographieren sollte, auf genauso unpersönliche Weise in die richtige Pose, wie Herrn Tiedekes Assistent es gemacht hatte. Nur dass sie für die Aufnahme nicht unter einem schwarzen Tuch verschwand, sondern hinter einem schweren Bleivorhang.
Nicht mehr atmen. Wieder atmen. Danke.
Ich habe sie später gefragt, ob ihr meine Verletzung gleich aufgefallen sei, und sie hat geantwortet: «Ist das wichtig?»
Natürlich ist es wichtig. Ist es immer gewesen.
Olga hat einen Mann geheiratet, der keiner ist. Sie muss darunter gelitten haben. Vielleicht leidet sie immer noch. Sie ist eine Frau, eine wunderbare Frau, und ich …
Zweite Qualität. Kriegsbeschädigt. Wie das eben manchmal ist, wenn eine Granate eingeschlagen hat. Die Fassade steht noch, aber das Gebäude ist nicht mehr bewohnbar.
Olga hat sich nie darüber beschwert. Nie. Wir reden über alles, über wirklich alles, aber bei diesem Thema ist sie mir all die Jahre ausgewichen. Hat meine Fragen einfach nicht zur Kenntnis genommen. Und, dafür bin ich ihr am dankbarsten, sie hat auch nie einen dieser fürchterlichen Sätze gesagt, mit denen man sich Problemeschönlügt. «Ich liebe deine Seele.» Das hätte ich nicht ertragen. Für falsche Töne bin empfindlich. Aber bei Olga gibt es keine falschen Töne.
Wir haben nie darüber gesprochen. Nicht ein einziges Mal. Über manche Dinge spricht man nicht.
Damals in der Schouwburg, als ich Mama zum Abschied umarmen wollte, ihr wenigstens am Tag ihrer Deportation zeigen wollte, wie lieb ich sie hatte, da hat sie mich weggestoßen. Nicht böse, nur mit einem tadelnden Kopfschütteln. Als ob sie ihre Ausgeh-Knisterbluse anhätte, und ich hätte ihr die beinahe zerknittert. Wollte sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen. Auch in diesem Moment ihre eigenen Regeln durchsetzen. Zum letzten Mal.
Über die wirklich wichtigen Dinge spricht man nicht.
In diesem Punkt, nur in diesem, erinnert mich Olga an Mama.
Man müsste eine Szene drehen – nicht dass Rahm sie mich drehen ließe, aber man müsste –, eine lange Szene, in der sich nur Menschen von einander verabschieden. Ehepaare. Freunde. Eltern und Kinder. Umarmungen. Händedrücke. Letzte Blicke. Wenn Rahm Theresienstadt zeigen wollte, wie es wirklich ist, könnten gar nicht genug Abschiede in seinem Film vorkommen.
Aber genau das will er ja nicht. Ich soll ihm ein Theresienstadt erfinden, das man sich gern ansieht. Ein attraktives Theresienstadt. Ein Bilderbuch-Theresienstadt. So wie sich die Hexe ein Pfefferkuchenhaus erfunden hat. Ich soll für ihn lügen.
Freiwillig. Weil ich doch ein Künstler bin und einem Künstler unter Zwang nichts einfällt. Ha ha ha. Ganz freiwillig soll ich erzählen, was nicht ist. Verschweigen, was ist.
Worüber man schweigt, das schreit am lautesten. Das war ein Zwischentitel in einem dieser idiotischen Aufklärungsfilme, mit denen der Franz Hofer sein Geld verdient hat. Es muss einen Grund haben, dass ich ihn mir gemerkt habe.
Über die wirklich wichtigen Dinge spricht man nicht.
Der Reinhardt hat einmal auf einer Probe gesagt: «Das Entscheidende an einer Rolle sind die Sätze, die man nicht ausspricht, unddie der Zuschauer trotzdem hört.» Olga sagt nicht: «Ich liebe dich.» Aber ich höre es trotzdem. Jeden Tag.
«Du musst herausfinden, was für ein Mensch du bist», hat sie gesagt. Und lässt mich seither allein. Sie will mich nicht beeinflussen. Obwohl meine Entscheidung sie genauso treffen wird wie mich selber. Verachtung oder Transport. Scylla oder Charybdis.
Mein Gott, wie stolz Oberstudiendirektor Dr. Kramm darauf wäre, dass ich das immer noch weiß. Dass mir das selbst in dieser Situation noch pünktlich einfällt. All diese rostigen Phrasen, mit denen sie einem den Kopf vollgestopft haben.
Drei Tage. Irgendwann werde ich meinen Entschluss fassen. Den falschen Entschluss, weil es einen richtigen nicht geben kann. Olga wird ihn akzeptieren. Sie hat mich immer so akzeptiert, wie ich bin. Ohne je zu zweifeln. Ich bin ihr dankbar dafür.
Ich habe Olga nicht verdient.
Habe mich in sie verliebt, ohne es gleich zu merken. Wie ich
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