Gesang des Meeres - Feehan, C: Gesang des Meeres - Turbulent Sea (6 - Joley u. Ilya Prakenskii)
davor, was und wer er in Wahrheit war, denn wenn es einen Mann gab, der wie kein anderer zu Tod und Zerstörung fähig war, dann stand er vor ihr und hatte sie mit seinem Mal gezeichnet – von Kopf bis Fuß.
»Sie ist noch ein Kind. Wie alt ist sie wohl? Dreizehn? Vierzehn? Findest du etwa, bloß, weil sie eine Fremde ist, sollte mich ihr Verschwinden nicht berühren?« Seine Stimme war sanft, gesenkt, liebevoll und tröstlich. »Sie ist bestenfalls ein angehender Teenie und sie war an einem Ort, an dem sie nicht hätte sein sollen. Ich war da, um alles im Auge zu behalten und
zu verhindern, dass etwas Derartiges passiert. Stattdessen waren meine Blicke – und meine Aufmerksamkeit – von dir in Anspruch genommen, und dieses Kind ist meiner Aufmerksamkeit entgangen.«
Jetzt war es die Melodie in ihm, die sie beschwichtigte. Wieder einmal hatte sich sein Lied gewandelt, und die Klänge waren wohltuend und ruhig, als hätte diese brutale Darbietung nie stattgefunden. Sein stetiger Herzschlag war kräftig und exakt, der Takt, der den Rhythmus seines Lebens bestimmte. Ruhig. Exakt. Die Symphonie, die um ihn herum anschwoll, sprach sie an und berührte sie, wo Worte möglicherweise nicht zu ihr durchgedrungen wären.
» Was ich in dem Moment gesehen habe, war aber nicht Sorge.« Ihr Mund war immer noch trocken, obwohl ihr Herzschlag sich beruhigt hatte und der Adrenalinstoß nachließ.
»Du bist unter ganz anderen Verhältnissen aufgewachsen als ich, Joley. Wenn in der Welt, in der ich lebe, junge Mädchen verschwinden, dann stoßen ihnen sehr unerfreuliche Dinge zu.«
Joley stieß ihren angehaltenen Atem aus und nickte. »Bedauerlicherweise muss ich dir diesmal zustimmen. Ich habe Angst um sie, Ilja. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl bei dieser Sache. Sie hat ihre Mutter angerufen, um ihr zu sagen, wo sie ist, obwohl sie es nicht hätte tun dürfen, und das weist auf jemanden hin, der nicht einfach von zu Hause ausgerissen ist.«
»Ich werde sie finden.« Ilja sprach mit dieser uneingeschränkten Zuversicht, mit der sein Herz schlug. Felsenfest und unbeirrbar.
Sie blickte in sein Gesicht auf und war fasziniert von der Entschlossenheit, die sie dort sah. Auf seiner Miene drückte sich vollkommene Ruhe aus, doch seine Augen glühten wie die eines grimmigen Kriegers aus alter Zeit. Was auch immer Ilja war oder nicht war – dieses vermisste junge Mädchen ging ihm nah. Joley zweifelte keine Sekunde daran, dass er das Mädchen
auf die eine oder andere Weise finden würde. Er würde nicht aufhören, niemals aufgeben, bevor er herausgefunden hatte, was diesem Kind zugestoßen war. Er hatte seine Bemühungen um Hannah auch nicht eingestellt, obwohl die Chancen, sie zu retten, unglaublich gering gewesen waren, und er würde auch dieses vermisste Mädchen nicht im Stich lassen.
Joley gähnte und versuchte hastig, es zu überspielen. Sie machte einen Schritt auf einen Sessel zu, als die Erschöpfung von neuem einsetzte und sich ihres Körpers bemächtigte. Sie stolperte, und Ilja schlang einen Arm um ihre Taille.
»Du bist so müde, dass du nicht einmal mehr weißt, was du tust.« Er zog an ihrem Handgelenk und führte sie wieder zum hinteren Ende des Busses, wo ihr Bett stand. »Leg dich hin, während wir miteinander reden, damit ich weiß, dass du dich wenigstens ausruhst.«
»Das habe ich noch nie getan.« Dieses Geständnis kam ihr albern vor. Sie hatte nie die Augen geschlossen, wenn ein Mann im selben Raum war. Diese Form von Vertrauen hatte sie nicht. Sie brauchte sich bloß ins Bett zu legen, und schon fühlte sie sich hilflos. »Ich schlafe nicht, wenn andere im selben Raum sind.«
»Es wird nicht wehtun.«
Joley seufzte und fügte sich. Sie kroch an den äußersten Rand des Bettes, legte sich hin und kam sich klein und angreifbar vor. Aber sie war zu müde für eine Auseinandersetzung, und allzu lange würde es wohl nicht dauern, bis er begriff, dass sie tatsächlich nicht schlafen konnte.
Ilja beugte sich zu ihr, um ihr die Schuhe auszuziehen. Er warf sie zur Seite und ließ seine Hände über ihre Füße gleiten; es fühlte sich so an, als wollte er von ihr Besitz ergreifen. Seine Finger strichen nur ein einziges Mal über ihre Füße, aber Joley bebte, und das Blut in ihren Adern heizte sich sofort auf.
Er ließ sich auf die Matratze sinken, lehnte sich mit dem Rücken ans Kopfende des Bettes und streckte die Beine vor
sich aus. Die Glut seines Körpers wärmte sie, während sie steif und wachsam
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