Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
abends gingen im Mariinski-Palais fraktionelle und interfraktionelle Beratungen über den Text der Übergangsformel: die Teilnehmer hatten noch nicht begriffen, daß es um einen Übergang ins Nichts ging. Keine der Versöhnlergruppen wollte sich mit der Regierung identifizieren. Dan sagte: "Wir Menschewiki sind bereit, bis zum letzten Blutstropfen die Provisorische Regierung zu verteidigen; doch muß sie der Demokratie die Möglichkeit geben, sich um sie zusammenzuschließen." Gegen Abend einigten sich die zersplitterten, demoralisierten, vom Suchen nach einem Ausweg erschöpften linken Fraktionen des Vorparlaments auf eine von Dan bei Martow entlehnte Formel, die die Verantwortung für den Aufstand nicht nur den Bolschewiki, sondern auch der Regierung zuschob, sofortige Übergabe des Grund und Bodens zur Verwaltung an die Landkomitees, Schritte bei den Alliierten zugunsten von Friedensverhandlungen und so weiter forderte. So suchten die Apostel der Mäßigkeit in letzter Minute Losungen nachzuäffen, die sie gestern noch als Demagogie und Abenteurertum gebrandmarkt hatten. Bedingungslose Unterstützung der Regierung versprachen außer den Genossenschaftlern nur Kadetten und Kosaken; zwei Gruppen, die die Absicht hatten, Kerenski bei der ersten Gelegenheit zu stürzen. Sie blieben aber in der Minderheit. Die Unterstützung des Vorparlaments hätte der Regierung zwar auch nicht viel einbringen können. Dennoch hat Miljukow recht: die Verweigerung dieser Unterstützung nahm der Regierung die letzten Reste von Autorität. War doch die Zusammensetzung des Vorparlaments wenige Wochen zuvor von der Regierung selbst festgelegt worden!
Während im Mariinski-Palais eine rettende Formel gesucht wurde, trat im Smolny der Petrograder Sowjet zusammen, um sich über die Ereignisse zu informieren. Der Berichterstatter findet für nötig, auch hier daran zu erinnern, daß das Militärische Revolutionskomitee entstanden sei "nicht als Organ des Aufstandes, sondern auf dem Boden der Selbstverteidigung der Revolution". Das Komitee habe Kerenski an der Entfernung der revolutionären Truppen aus Petrograd gehindert und die Arbeiterpresse unter seinen Schutz genommen. "Ist das ein Aufstand?" Die Aurora steht heute dort, wo sie gestern nacht war. "Ist das ein Aufstand?" - "Bei uns besteht eine Scheinmacht, der das Volk nicht vertraut und die sich selbst nicht vertraut, denn sie ist innerlich tot. Diese Scheinmacht wartet darauf, vom historischen Besen hinweggefegt zu werden und den Platz zu räumen für die wahre Macht des revolutionären Volkes." Morgen werde der Sowjetkongreß eröffnet. Pflicht der Garnison und der Arbeiter sei, dem Kongreß ihre ganze Kraft zur Verfügung zu stellen. "Wenn die Regierung aber versuchen sollte, die vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden, die ihr geblieben sind, zu benutzen, um der Revolution das Messer in den Rücken zu stoßen, so erklären wir aufs neue: die vordersten Reihen der Revolution werden Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren." Diese offene Drohung ist gleichzeitig die politische Deckung des in der Nacht bevorstehenden Schlages. Trotzki teilt zum Schluß mit, daß die Vorparlamentsfraktion der linken Sozialrevolutionäre nach dem heutigen Auftreten Kerenskis und dem Mäusetreiben der Versöhnlerfraktionen eine Delegation in das Smolny entsandt und ihre Bereitschaft ausgesprochen habe, offiziell in das
Militärische Revolutionskomitee einzutreten. In der Wendung der linken Sozialrevolutionäre begrüßte der Sowjet freudig die Widerspiegelung tieferer Prozesse: den wachsenden Schwung des Bauernkrieges und den erfolgreichen Verlauf des Petrograder Aufstandes.
Den Bericht des Petrograder Sowjetvorsitzenden kommentierend, schreibt Miljukow: "Dies war auch wahrscheinlich Trotzkis ursprünglicher Plan: Nach getroffenen Kampfvorbereitungen die Regierung von Angesicht zu Angesicht zu stellen mit dem "einmütigen Willen des Volks", zum Ausdruck gebracht durch den Sowjetkongreß, um so der neuen Macht den Anschein legalen Ursprungs zu verleihen. Doch die Regierung erwies sich schwächer, als er erwartet hatte. Und die Macht fiel ihm von selbst in die Hände, bevor der Kongreß sich versammeln und äußern konnte." An diesen Worten ist zutreffend, daß die Schwäche der Regierung alle Erwartungen übertraf Doch bestand der Plan von Anfang an darin, die Macht vor Eröffnung des Kongresses zu ergreifen. Miljukow gibt dies übrigens in einem anderen Zusammenhange selbst zu. "Die wirklichen
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