Geschichten aus der Murkelei
dann wird die Welt immer größer, und der Himmel wird heller, und die Vögel singen lauter,
und immer stärker und voller klopft das Herz, und ich weiß vor Glück nicht mehr aus noch ein …«
»Das muß ein seltsam Ding sein, solch Herz«, sprach das immer blassere Brüderchen. »Das möchte ich wohl kennenlernen. Erzähle
mir mehr vom Herzen, Schwester.«
»Ja«, sagte Christa, und ihre Stimme wurde leiser, »und wenn ich etwas Schlechtes getan habe, so klopft es auch. Aber ganz
anders. Es ist, als wollte es immer stillestehen, |77| und es sticht, und es pocht, und es mahnt, und es ruht nicht eher, bis ich das Schlechte wiedergutgemacht habe und wieder
fröhlich bin.«
»Schwester«, sprach der kleine Stern aus dem Himmel, »nun geht mein Licht aus. Aber es tut mir nicht mehr leid; denn seit
ich das gehört habe, was du vom Herzen erzählt hast, habe ich nur den Wunsch, auch ein Herz zu haben. Wenn ich nun geboren
werde, bin ich ja ganz klein und werde alles vergessen haben. Willst du daran denken und für mich sorgen, daß mein Herz immer
freudig schlägt, wie du es erzählt hast, und nie böse sticht –?«
Das versprach Christa, und als sie das getan hatte, flackerte das Sternlein noch einmal hell auf und erlosch dann. Christa
aber schlief weiter, und als sie am nächsten Morgen erwachte, wußte sie noch, daß sie zwei Sterne hatte fallen sehen und sich
zur rechten Zeit ein Brüderchen gewünscht hatte. Danach war ihr aber nur noch, als sei das Brüderchen im Traum wie eine kleine
Flamme bei ihr gewesen und sie habe ihm etwas versprochen, was aber, das wußte sie nicht mehr.
Nun gingen viele Tage in das Land, und Christa spielte, ging in die Schule, half der Mutter, ritt auf der Liese und dachte
auch manchmal an das Brüderchen, ob es nun wohl bald da sein werde. Und eines Morgens rief der Vater Christa in das elterliche
Schlafzimmer; da stand die alte Krippe vom Boden, und in ihr lag das Brüderchen. Da freute sich Christa sehr, und die ersten
Tage konnte sie gar nicht genug um das Brüderchen herum sein.
Aber Christa war groß, und das Brüderchen war klein und lag immer in der Krippe, und auch als es laufen lernte, war es eine
rechte Last, weil es immer hinfiel und schrie. Und es konnte nicht ordentlich sprechen und zerriß die Bilderbücher, weil es
noch dumm war. Da sagte Christa oft: »Olles dummes Brüderchen!« und lief hinaus zu den andern, den großen Kindern, mit denen
zu spielen. Wenn aber die Mutter |78| sagte: »Christel, ich muß waschen, spiel ein bißchen mit Brüderchen«, so zog Christa ein Gesicht. Und sagte die Mutter wieder:
»Du hast dir doch selbst ein Brüderchen gewünscht, Christel!«, antwortete sie: »Nicht so eines!«
Nun verging wieder einige Zeit, da wurde das Brüderchen krank. Zuerst achtete Christa nicht sehr darauf, als aber der Vater
und die Mutter mit immer traurigeren Gesichtern umhergingen und das Brüderchen rot und mit geschlossenen Augen im Bett lag,
da wurde ihr auch angst. Still stand sie in einer Ecke des Zimmers und sah zu dem Bettchen hinüber, in dem Brüderchen lag.
Die Mutter wollte dem Brüderchen einen Umschlag machen, Christa hielt das Tuch, die Mutter streifte das Hemd ab, und als sie
die hastig atmende Brust sah, legte sie die Hand darauf und sagte traurig: »Wie das klopft! Ach, wie das klopft!«
Da legte Christa auch ihre Hand auf des Brüderchens Brust, und sie fühlte das Herz des Brüderchens klopfen unter ihrer Hand,
hastig und angstvoll, immerzu. Und es war ihr, als riefe das Herz immerzu: »Laßt mich heraus! Ich will fort! Laßt mich heim!«
Da fiel der Christa plötzlich ein, was sie der kleinen Sternenflamme in der Nacht versprochen hatte, daß sie nämlich dafür
hatte sorgen wollen, daß des Brüderchens Herz froh und glücklich klopfte. Und es fiel ihr ein, wie häßlich sie zu Brüderchen
gewesen war und daß sie nichts für seine Freude getan hatte. Da befielen die Christa großer Kummer und Sorge, denn sie verstand,
daß es dem Brüderchen nicht auf der Erde gefiel und daß es wieder zurück wollte zu den Funkelsternen, die kein Herz haben.
Und Christa überlegte, was sie wohl tun könnte, um das Herz des Brüderchens froh schlagen zu machen, und sie lief hin und
holte ihr schönstes Bilderbuch, das sie dem Brüderchen bisher nie hatte geben wollen. Sie legte das Buch auf das Bettchen
und sprach: »Da, Brüderchen, das schenke ich dir. Du darfst es auch zerreißen.« Da
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