Geschöpfe der Nacht
das seltene Beispiel eines Menschen, der es genoß, Macht zu haben, sie aber nicht mißbrauchte, und der seine Weisungsbefugnis mit gutem Urteilsvermögen und Mitgefühl ausübte. Er war seit vierzehn Jahren Polizeichef, ohne daß es in seiner Behörde den geringsten Hinweis auf Skandale oder unangemessenes oder unfähiges Vorgehen gegeben hatte.
So ging ich durch lampenlose Gassen, die von einem Mond erhellt wurden, der am Himmel immer höher stieg, kam an Zäunen und Fußwegen vorbei, an Gärten und Mülltonnen, und murmelte im Geiste die Worte vor mich hin, mit denen ich hoffentlich eine überzeugende Geschichte erzählen würde. Ich erreichte den Parkplatz hinter dem Gebäude der Stadtverwaltung in lediglich zwei Minuten statt der zehn, von denen Manuel ausgegangen war – und traf Chief Stevenson in einer verschwörerischen Situation an, die ihm all die guten Eigenschaften nahm, die ich gerade noch in ihn projiziert hatte. Enthüllt wurde nun ein Mann, der es trotz seines edlen Gesichts nicht verdiente, durch Münzen oder Monumente geehrt zu werden, ja nicht einmal, daß in der Polizeiwache sein Foto neben dem des Bürgermeisters, des Gouverneurs und des Präsidenten der Vereinigten Staaten hing.
Stevenson stand am anderen Ende des Gemeindehauses, neben dem Hintereingang der Polizeiwache, in einer Kaskade des bläulichen Lichts einer vergitterten Notlampe über der Tür. Der Mann, mit dem er sich besprach, stand vielleicht einen Meter von ihm entfernt und nur halb im blauen Schatten verborgen.
Ich überquerte den Parkplatz und ging auf sie zu. Da sie in ihr Gespräch vertieft waren, schienen sie mich nicht zu bemerken. Außerdem wurde ich von Lastwagen des Bauamts, Streifenwagen und Fahrzeugen der Stadtwerke, an denen ich vorbeiging, größtenteils abgeschirmt, während ich mich gleichzeitig so fern wie möglich vom direkten Licht der drei hohen Straßenlampen hielt.
Als ich gerade ins Freie treten wollte, näherte sich Stevensons Besucher dem Chief und warf den Schatten ab. Ich blieb vor Entsetzen stehen. Ich sah seinen kahlrasierten Kopf, das harte Gesicht. Rotkariertes Flanellhemd, Jeans, Arbeitsschuhe.
Auf diese Entfernung konnte ich den Ohrring mit der Perle nicht ausmachen.
Ich stand zwischen zwei großen Fahrzeugen und zog mich schnell ein paar Schritte in die ölige Dunkelheit zwischen ihnen zurück, damit ich nicht gesehen werden konnte. Einer der Motoren war noch warm; er klingelte und tickte, während er abkühlte.
Obwohl ich die Stimmen der beiden Männer hörte, verstand ich nicht, was sie sagten. Eine auflandige Brise umschmeichelte noch immer die Bäume und kämpfte gegen alles Menschenwerk an, und dieses unaufhörliche Flüstern und Zischen verhüllte das Gespräch vor mir.
Mir wurde bewußt, daß das Fahrzeug rechts neben mir, das mit dem warmen Motor, der weiße Ford-Lieferwagen war, in dem der Glatzkopf heute abend aus der Tiefgarage des Mercy Hospital gefahren war. Mit den sterblichen Überresten meines Vaters.
Ich wollte wissen, ob der Zündschlüssel noch steckte, und drückte deshalb das Gesicht gegen das Fenster der Fahrertür, konnte aber nicht viel vom Wageninneren erkennen.
Hätte ich den Lieferwagen stehlen können, hätte ich höchstwahrscheinlich einen handfesten Beweis für meine Geschichte gehabt. Selbst, wenn die Leiche meines Vaters an einen anderen Ort gebracht worden war und sich nicht mehr in diesem Kastenwagen befand, würde man darin forensische Beweise finden – und nicht zuletzt das Blut des Anhalters.
Aber ich hatte keine Ahnung, wie man eine Zündung kurzschloß.
Verdammt, ich konnte nicht mal fahren.
Und selbst, wenn ich festgestellt hätte, daß ich ein natürliches Talent für die Bedienung von Motorfahrzeugen hatte, das Mozarts Brillanz beim Komponieren gleichkam, hätte ich nicht die dreißig Kilometer in südlicher oder die fünfzig in nördlicher Richtung entlang der Küste in den Zuständigkeitsbereich einer anderen Polizeibehörde fahren können. Nicht im grellen Licht entgegenkommender Scheinwerfer. Nicht ohne meine kostbare Sonnenbrille, die zerbrochen weit entfernt in den Hügeln im Osten lag.
Außerdem… hätte ich die Tür des Wagens geöffnet, wäre das Licht im Fahrerhaus angegangen. Das hätten die beiden Männer bemerkt.
Sie würden herbeigelaufen kommen.
Sie würden mich töten.
Die Hintertür der Polizeiwache wurde geöffnet. Manuel Ramirez trat heraus.
Lewis Stevenson und sein Mitverschwörer brachen ihr eindringliches Gespräch
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