Geschöpfe der Nacht
ziemlich baff darüber, warum er seine sämtlichen weltlichen Besitztümer Bobby hinterlassen hatte, den er nur acht Jahre lang gekannt hatte.
Als Erklärung händigte der Testamentsvollstrecker Bobby einen Brief von Corky aus, der ein Meisterwerk an Prägnanz war:
Bobby,
Was für die meisten Leute wichtig ist, ist es für dich nicht. Das ist Weisheit.
Was du für wichtig hältst, dem widmest du bereitwillig dei nen Kopf, dein Herz und deine Seele. Das ist Anstand.
Wir haben nur die See, Liebe und Zeit. Gott hat dir die See geschenkt. Durch deine Taten wirst du immer Liebe finden.
Also schenke ich dir Zeit.
Corky sah in Bobby jemanden, der von Kindheit an ein natürliches Verständnis für jene Wahrheiten hatte, die Corky selbst erst erkannt hatte, als er siebenunddreißig war. Er wollte dieses Verständnis ehren und ermutigen. Gott segne ihn dafür.
Als Bobby im Sommer nach seinem ersten Jahr am Ashdon College das Haus und – nach Abzug der Steuer – eine bescheidene Geldsumme erbte, ging er von der Schule ab. Das erzürnte seine Eltern. Er konnte ihren Zorn jedoch abschütteln, weil der Strand und das Meer und die Zukunft ihm gehörten.
Außerdem waren seine Eltern ihr ganzes Leben lang wegen der einen oder anderen Sache wütend gewesen, und Bobby hatte sich schon längst daran gewöhnt. Sie sind Besitzer und Herausgeber der Lokalzeitung und sehen sich als unermüdliche Kreuzzügler für eine aufgeklärte öffentliche Politik, was im Klartext heißt, daß sie die meisten Bürger für zu egoistisch halten, um das Richtige zu tun, oder für zu dumm, um zu wissen, was für sie am besten ist. Sie erwarteten von Bobby, daß er ihre sogenannte »Leidenschaft für die großen Themen unserer Zeit« teilte, doch Bobby wollte dem lauthals verkündeten Idealismus seiner Familie entrinnen – und all dem schlecht verborgenen Neid, der Verbitterung und Selbstgefälligkeit, die mit ihm einhergeht. Bobby wollte lediglich seinen Frieden haben. Seine Eltern wollten ebenfalls Frieden haben, für den gesamten Planeten, Frieden in jeder Ecke des Raumschiffs Erde, waren aber nicht imstande, ihn in den eigenen vier Wänden zu schaffen.
Mit dem Cottage und dem Startkapital für die Firma, die ihn nun ernährte, fand Bobby Frieden.
Die Zeiger jeder Uhr sind Scheren, die uns einen Fetzen nach dem anderen abschneiden, und jede Uhr mit Digitalanzeige blinkt uns der Implosion entgegen. Zeit ist so kostbar, daß sie nicht erkauft werden kann. Corky hatte Bobby in Wirklichkeit keine Zeit geschenkt, sondern die Gelegenheit, ohne Uhren zu leben, ohne sich der Uhren bewußt zu sein, was die Zeit sanfter verstreichen zu lassen scheint, mit weniger scherendem Zorn.
Meine Eltern hatten versucht, mir dasselbe zu schenken.
Wegen meiner XP höre ich jedoch gelegentlich ein Ticken. Vielleicht hört Bobby es ebenfalls ab und zu. Vielleicht ist es völlig unmöglich, daß irgend jemand leben kann, ohne sich der Uhren bewußt zu sein.
Sogar Orsons Nacht der Verzweiflung, in der er mit solcher Niedergeschlagenheit die Sterne betrachtet und all meine Versuche zurückgewiesen hatte, ihn zu trösten, war vielleicht von der Erkenntnis verursacht worden, daß seine Tage verstrichen. Es heißt, der einfache Verstand von Tieren sei nicht imstande, die Vorstellung von der eigenen Sterblichkeit zu begreifen. Aber jedes Tier hat einen Überlebensinstinkt und erkennt Gefahr. Wenn es kämpft, um zu überleben, versteht es, was der Tod ist, ganz gleich, was die Wissenschaftler und Philosophen behaupten.
Das ist keine New-Age-Sentimentalität meinerseits. Das ist ganz einfach gesunder Menschenverstand.
Als ich nun in Bobbys Dusche den Ruß von Orson abschrubbte, zitterte er weiterhin. Das Wasser war warm. Das Zittern hatte nichts mit dem Bad zu tun.
Als ich den Hund mit mehreren Handtüchern abgerubbelt und mit einem Fön getrocknet hatte, den Pia Klick zurückgelassen hatte, zitterte er nicht mehr. Während ich mir eine Jeans und einen langärmeligen blauen Baumwollpulli von Bobby anzog, schaute Orson ein paarmal zu dem beschlagenen Fenster, als befürchtete er, draußen in der Nacht könnte sich noch jemand verbergen, aber sein Selbstvertrauen schien zurückzukehren.
Mit Papiertüchern wischte ich meine Lederjacke und die Mütze ab. Sie rochen noch immer nach Rauch, die Mütze stärker als die Jacke.
In dem schwachen Licht konnte ich kaum die Wörter über dem Schirm lesen: MYSTERY TRAIN . Ich rieb mit dem Daumenballen über die aufgestickten
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