Gesetzlos - Roman
einmal als Kunst bezeichnet werden konnte, aber mit dem es dem Maler geglückt war, etwas von der lebendigen, wahren, atmenden Gegenwart des Modells auf die Leinwand zu bannen, den Ausdruck der Augen, die mannigfaltigen Farben des glänzenden Haars, den Ansatz eines Lächelns). Nun sah Irène Clara nicht unähnlich. Und Irène hatte sich als Clara verkleidet, Irène war an Stelle von Clara zu unserem Treffen gekommen, Irène war Clara (so wie sie Marie war), sodass die Umarmung Irènes nicht die Umarmung Irènes war – in meinem Zustand höchster Verwirrung und Erschöpfung fungierte Irène nur als eine Art Dummy.
Dritter, leichter Stupser (nur aus Gründen der Vollständigkeit erwähnt), fast nur ein daunenzartes Streicheln: Irène hatte mich gegenüber Armand Nathal als ihren »neuen Liebhaber« bezeichnet. Aufgrund der natürlichen Macht der Worte übte dieses auf unsere Beziehung geheftete Etikett gleichfalls einen gewissen Einfluss aus, ein Tausendstel Einfluss.
Nachdem nun also ihre Weste und ihre Handtasche auf meinen Lautsprecherboxen lagen (auf denen ich niemals auch nur den geringsten Gegenstand darauf abstellte und mich in punkto Berührung mit ihnen darauf beschränkte, hin und wieder ein Staubkörnchen mit einem Spezialtuch fortzuwischen), wandte sie sich (eine Drehung vollführend) um und nahm kurzerhand auf »meiner« Seite des nachtblauen Sofas Platz, auf dem linkenKissen, das deutlich abgenutzter war als das rechte (abgenutzt war das rechte, ehrlich gesagt, überhaupt nicht), dabei hatte sie sehr wohl gesehen, dass es mein Platz war, selbst mit geschlossenen Augen hätte sie es gesehen, geahnt, gewittert, instinktiv gewusst, wohin sie sich setzen musste, um mein Territorium anzunagen, mich zu verdrängen (nicht ohne mich festzuhalten), bei mir ohne mich zu sein, mich auszusaugen, mit Haut und Haar zu verschlingen (zumindest glaubte sie das).
Sie seufzte. Schließlich war es auch für sie ein merkwürdiger, harter Tag gewesen.
Ich sah davon ab, Mireille Bel anzurufen. Wenn sie es noch nicht getan hatte, hieß das leider … morgen.
»Wohnungsbesichtigung?«, fragte Irène.
Alles gefiel ihr, von meinem Balkon aus der Blick auf die Rue des Martyrs, die sich gemächlich und lasziv zur Notre-Dame-de-Lorette hinuntersenkte, die Grünfläche auf der Rückseite des Wohnhauses – meine alten Möbel, der herrliche Spanische Schrank in meinem Schlafzimmer, die beeindruckende Ruhe im Musikzimmer …
»Ach ja! Ein Klavier!« (Sie ging näher heran und las:) »›Ernst Maïmer‹ … Wollen Sie mir ein wenig darauf vorspielen?«
Mir ein wenig darauf vorspielen! Diese Gedankenlosigkeit! Nein, ich wollte nicht, ich war ganz gewiss nicht in der Stimmung, der Zeitpunkt war denkbar schlecht gewählt. Und war das überhaupt ihr Wunsch? Ich denke nicht. Musik war ihr doch egal, sie gehörte zu der Sorte Leute, die von Musik in welcher Erscheinungsform auch immer kalt gelassen werden, sie hörte nur gelegentlich und mit halbem Ohr irgendwelche Gassenhauer, die gerade in Mode waren oder es einmal gewesen waren – ja, aber sie ertrug es nicht, dass man sich ihren Wünschen widersetzte, und meine unwirsche Weigerung etwas zu spielen ließ ein feindseliges Flackern in ihren Augen auflodern, worauf umgehend eine mitleidige, verständnisvolle Miene folgte – aber sowas von falsch.
Die Küche übte eine ganz besondere Anziehungskraft auf sie aus, ich spreche hier von den verlockenden Dimensionen meines Kühlschranks, der ganz offensichtlich den unwiderstehlichen Drang in ihr weckte, ihn zu öffnen und eine genaue Bestandsaufnahme seines Inhalts durchzuführen.
»Sie hätten nicht zufällig etwas Stilton da? Ich habe gerade Appetit auf Stilton.«
»Nein. Stilton nicht.«
»Aber Sie wissen schon, was das ist, oder?«
Die Frage einer eingefleischten Lügnerin, die überall nur Lügen wittert.
»Ja, sonst würde ich nicht sagen, dass ich keinen habe. Es ist ein englischer Blauschimmelkäse.«
»Haben Sie noch nie welchen gegessen?«
»Noch nie.«
»Dann sollten Sie welchen kaufen, er schmeckt gut.« (Mit einem kleinen Lachen, das man für dümmlich hätte halten könnte, das es aber nicht war – sie war schlau und listig, aber nicht dumm –, fügte sie hinzu:) »Miss Perking liebt Stilton! An oberster Stelle kommt der aus Leicestershire, wirklich wahr. Noch vor dem aus Derbyshire oder Nottinghamshire. Der Unterschied ist unmerklich, aber ich merke ihn.«
»Bravo … Ich habe noch andere Dinge zum Essen da,
Weitere Kostenlose Bücher