Gesundheit, Herr Doktor!
werden.
Sir Lancelot fuhr die zementierte Auffahrt entlang, an der sich zu beiden Seiten Plastiksäcke voll von stinkendem Unrat reihten; die städtische Müllabfuhr hatte sie «übersehen». Seltsam, welch tiefe Emotionen gewisse Wörter auch in den abgehärtetsten Menschen auszulösen vermögen, grübelte er. Wörter wie «Streik» oder «Rot» oder «Schwarz», Wörter wie «Aussperrung» oder «Provokation» oder «Ausbeutung» oder «Chef», oder, im gegenteiligen Sinn, «Arbeiter». Er hätte Pip insofern zustimmen können, als Politik im Grunde nichts anderes ist als angewandte Psychologie. Und wirtschaftliche, gewerkschaftliche Auseinandersetzungen zielten weniger auf Geld ab, mit dem man nur Dinge kaufen kann, als auf Macht, letzten Endes also auf Stolz. Jetzt aber, überlegte Sir Lancelot, während er dem Westen der Stadt zustrebte, mochte es sich als nützlich erweisen, den Wurm in dem Gewissen so manches Mächtigen zu spielen.
Sir Lancelot fuhr den Rolls an den Randstein heran. Ein Polizist salutierte. Sir Lancelot erwiderte den Gruß mit einem flüchtigen Kopfnicken, packte den wuchtigen schwarzen Instrumentenkoffer und bewegte sich auf die schlichte Eingangstür zu. Ein junger Mann, der dort auf der Lauer lag, trat sofort auf den Ankömmling zu und sprach ihn an: «Entschuldigung, aber Sie sind doch sicher der bekannte Chirurg Sir Lancelot Spratt?»
«Na ja, wie der Führer Ihrer Majestät Opposition sehe ich wohl nicht aus», gab Sir Lancelot gereizt zurück.
«Hat Ihre Visite besondere Bedeutung?» erkundigte sich der aufdringliche junge Mann neugierig. «Ich vertrete den Daily-»
«Lieber junger Mann, ich statte lediglich einen Routinebesuch ab, der die Presse nicht das geringste angeht. Das Erscheinen ärztlicher Personen auf den Türschwellen bedeutender Menschen kann oft nachhaltige, ja, verheerende Folgen nach sich ziehen. Währungen zerbröckeln, die Börse bricht zusammen, Armeen setzen sich in Bewegung. Um solche Katastrophen zu verhindern, habe ich beschlossen, regelmäßig einmal monatlich zu erscheinen. Sie hätten das Ihrem Verleger erklären sollen.»
Die Eingangstür hatte sich bereits geöffnet, ein befrackter Butler schloß sie hinter Sir Lancelot. Drinnen stand ein jüngerer, schlanker Staatsbeamter, ebenso förmlich gekleidet wie der Chirurg.
«Guten Tag, Sir Lancelot.» Der Chirurg hatte den Beamten in den letzten Jahren recht gut kennengelernt. «Leider befindet sich Mr. Nelson noch immer in einer Sitzung. Er wird so rasch wie möglich zu Ihnen kommen.»
Sir Lancelot nickte. «Ich nehme an, daß er sich wohl fühlt?»
«So wohl wie ein Floh im Unterhemd. Oder sollte ich lieber ein anderes Insekt nennen?» Der Beamte lächelte, er gehörte zu den wenigen, die in das Geheimnis eingeweiht waren. Mrs. Nelson sitzt im Garten bei ihrer Handarbeit. Sie läßt fragen, ob Sie nicht auf eine Tasse Tee und eine Zigarette zu ihr kommen wollen?»
«Ich bin Nichtraucher und möchte den friedlichen Nachmittag der Dame des Hauses nicht stören. Ich gehe direkt hinauf.»
Sir Lancelot betrat den engen automatischen Lift. Mr. und Mrs. Herbert Nelson hausten in einer vollgeräumten Wohnung oberhalb der Amtszimmer, die den größten Teil des alten, oft renovierten Hauses einnahmen. Im Schlafzimmer zog Sir Lancelot sein Jackett aus, rollte die Ärmel seines weißen Hemdes auf und öffnete den Lederkoffer. Sir Lancelots Blick schweifte über die ihm schon vertraut gewordenen Gegenstände - ein Gruppenbild Mr. Nelsons inmitten seines jungendlichen Fußballteams, Mr. Nelsons gerahmtes Zertifikat als Lebensretter, eine kolorierte Belobigung aus der Sonntagsschule, zwei Texte in Brandmalerei: Der Wein muß die Lebendigen erfreuen, und das Geld muß alles zuwege bringen, Prediger X, 19, und: Es gibt andere Methoden, eine Katze zu töten, als sie in Sahne zu ersticken. Auch das schmale Regal mit den abgegriffenen Büchern - Lambs Geschichten über Shakespeare, Der goldene Hausschatz, Weinführer für den Mittelstand, Nationalökonomie für jedermann - war Sir Lancelot wohlbekannt. «Er ist also wirklich der einfache Mann, als den er sich so gerne in den Zeitungen dargestellt sieht», dachte Sir Lancelot tolerant und prüfte gerade einen kleinen keramischen Artikel unbekannten Zweckes mit der Aufschrift Clovelly und einer Jahreszahl, die auf den Erwerb in den
Flitterwochen des Ehepaares Nelson schließen ließ, als sich die Schlafzimmertür öffnete und sein Patient hereineilte.
«Guten Tag, Sir
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