Ghost Street
hatte. Sie brauchte nur durch den Haupteingang und über die Straße zu laufen, schon war sie so gut wie zu Hause. Eine heiße Dusche und ein paar Stunden Schlaf, darauf freute sie sich im Moment am meisten.
Während sie über den Friedhof lief, ließ sie ihren Blick über die Grabsteine schweifen. Trübe Nebelschwaden zogenüber die Gräber, verfingen sich in den Baumkronen und schienen an dem Spanischen Moos hängen zu bleiben. Ein unheimlicher Ort, selbst bei Tageslicht, und erst recht bei Dunkelheit, wenn die Seelen der Verstorbenen aus ihren Gräbern kamen und in den Häusern der Altstadt spukten. So erzählten es zumindest die Fremdenführer der zahlreichen Ghost Tours.
Eines der Gräber zog sie auf magische Weise an. Zuerst sah sie nur den weißen Marmorengel, der sich mit ausgebreiteten Flügeln von dem Grabstein zu erheben schien. Als sie den Kiesweg verließ und näher herantrat, erkannte sie den Namen der Toten, die unter dem Stein lag: »Helen Rydell« stand dort in schlichten Buchstaben und drunter »Ruhe in Frieden«. Mehr nicht. Ein gewöhnliches Grab, das sich nur durch den Engel von den anderen abhob. Er sah wesentlich neuer aus als der verwitterte Grabstein. Angie Rydell hatte ihn wohl erst vor wenigen Monaten montieren lassen. Andere Angehörige gab es nicht, wie Alessa inzwischen festgestellt hatte. Angies Vater war vor ein paar Jahren an Prostatakrebs gestorben.
Erst als Alessa in die Knie ging und den Grabstein näher betrachtete, erkannte sie, dass jemand ein Kreuz neben den Namen der Verstorbenen gemalt hatte. Weißer Markierstift, stellte sie bei näherem Hinsehen fest. Der Gewitterregen hatte die weiße Farbe fast vollständig abgewaschen, aber Überreste waren vorhanden, und man konnte das Kreuz deutlich erkennen. Galt das weiße Kreuz der Tochter der Verstorbenen? Galt es Angie Rydell? Hatte der Mörder es auf den Stein gemalt?
Alessa richtete sich auf und schob einige staubige Haarsträhnen aus ihrer Stirn. Zögernd ging sie weiter. Die Überreste des weißen Kreuzes hatten sie nachdenklich gemacht. War auf den Grabsteinen der anderen Opfer auchein weißes Kreuz? Hatte es der geheimnisvolle Killer tatsächlich auf die Nachfahren aller Mordopfer abgesehen?
Sie ging die Toten in Gedanken durch. Abe Middleton, den Schwarzen, der mit Helen Rydell befreundet gewesen war, hatte man aufgehängt. Bald darauf hatten ihn seine Verwandten an einem geheimen Ort begraben. Roy Keane, der schwarze Pfarrer, der die Morde in seiner Predigt verurteilt hatte, war in seinem Haus verbrannt. Toby Snyder, der weiße Student, der sich mit Jeremy Hamilton während einer Kundgebung angelegt hatte, war mit dem Freedom Bus in die Luft geflogen. Weder von ihm noch von dem Pfarrer war genug übrig geblieben, um es begraben zu können.
Blieb nur Bruce Gaddison, der weiße Besitzer eines Diners, in dem man Schwarze geduldet hatte. Ein schweres Vergehen nach den Gesetzen des Ku-Klux-Klan. Hatte man auch ihn auf dem Colonial Park Cemetery begraben?
Sie lief an den Gräbern entlang, zuerst langsam und zögernd, dann immer schneller und fest entschlossen, den Grabstein zu finden, auch wenn die Reihen der Gräber endlos erschienen. Sie kümmerte sich weder um ihr Aussehen noch um den nächtlichen Wind, der unangenehm kühl unter ihre Kleider strich. In ihren Crocs stand das Wasser aus den Pfützen, in die sie getreten war. »Bruce Gaddison«, flüsterte sie. »Bist du hier, Bruce? Wo bist du?«
Sie blieb schwer atmend stehen und blickte in den Nebel. Selbst wenn der Besitzer des Diners auf diesem Friedhof lag, würde sie ihn niemals finden. Auf dem Colonial Park Cemetery gab es über tausend Gräber, und man brauchte mehrere Stunden, um sich alle Grabsteine anzusehen. Frustriert drehte sie um und wollte umkehren.
Eine flüchtige Bewegung hielt sie davon ab. Aus dem Nebel, etwa hundert Schritte von ihr entfernt, schältesich eine dunkle Gestalt. Sie schien über den Gräbern zu schweben und hob sich schattenhaft gegen die hellere Umgebung ab. Wie ein Geist bewegte sie sich zwischen den Grabsteinen.
Alessa starrte sie entgeistert an, spürte plötzlich den kalten Nachtwind, der durch ihre Kleider bis auf ihre Haut zu dringen schien. Sie dachte nicht daran, dass sie in ihrer schmutzigen Kleidung selbst wie ein Geist aussehen musste. Ihr dreckverschmiertes Gesicht und die verklebten Haare hätten jeden Spaziergänger erschreckt.
Die Gestalt bewegte sich nach links, schwebte über den Kiesweg und blieb im trüben
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