Ghost Street
Sie bildete sich die Geräusche nur ein. Das hatte man doch oft, wenn man überarbeitet war oder der Vollmond am Himmel stand, die Gedanken spielten einem böse Streiche. Sie bildete sich das alles nur ein.
Dennoch ging sie weiter. Sie musste den Keller mit eigenen Augen sehen, um wieder ruhig schlafen zu können. Im Parterre knipste sie das Licht an. Ihr Kater hob den Kopf, blickte sie neugierig an und schlief weiter. Er würde noch ein, zwei Tage brauchen, bis er wieder so munter war wie zuvor.
Alessa wandte sich nach rechts und blieb vor der Kellertreppestehen. Sie zögerte. Für ein paar Sekunden waren die seltsamen Laute verstummt, dann rasselte die Kette, ein Kind weinte und Alessa öffnete entschlossen die Tür. Ein kühler Windhauch und der muffige Geruch von gestapeltem Papier schlugen ihr entgegen, die Hinterlassenschaft des älteren Ehepaars, das vor ihr in dem Haus gewohnt hatte. Die beiden hatten Zeitschriften gesammelt und den größten Teil im Keller zurückgelassen.
Sie suchte den Schalter und knipste das Licht an, eine vergitterte Wandlampe, kaum heller als die Notlampe im Flur. Alessas Schatten wanderte an der Wand entlang, als sie langsam nach unten stieg. Ihre Crocs gaben eigenartige Geräusche von sich. Sie ließ ihre rechte Hand an dem eisernen Geländer entlanggleiten, fluchte in Gedanken, weil sie keine Taschenlampe mitgenommen hatte, und bemerkte verwundert, wie sich die geheimnisvollen Geräusche langsam entfernten.
Am Ende der Treppe blieb sie abwartend stehen. Das Klirren der Kette und die klagenden Laute verklangen dumpf und hohl in der Ferne. Sie knipste das Kellerlicht an, noch eine trübe Lampe, und stand in dem bis auf die gestapelten Zeitschriften und ein altes Fahrrad leeren Vorraum. Von dem Vorraum zweigten der Waschkeller, der Heizungsraum und ein Gang ab.
Der Gang war ein Relikt aus dem Bürgerkrieg, hatte ihr die Vermieterin verraten, ein Geheimgang, durch den die Bewohner des Hauses vor der einfallenden Nordarmee geflohen waren. Ein Tunnel im felsigen Boden, der eine halbe Meile vom Haus entfernt zur Oberfläche führen sollte. Alessa war nur einmal in dem Gang gewesen und gleich wieder umgekehrt, als ihr einige Ratten entgegengekommen waren. Sollte sie das Haus jemals kaufen, würde sie den Gang zumauern lassen, hatte sie sich geschworen.
Seltsamerweise war die schwere Tür des Geheimgangs geschlossen, und im schwachen Lichtschein waren keine Fußspuren auf dem schmutzigen Boden zu sehen. Doch die Geräusche waren eindeutig aus dem Gang gekommen. Oder ging in dieser Nacht die Fantasie mit ihr durch? Hatte der Albtraum sie aus dem Gleichgewicht gebracht? Es gab keine Sklaven mehr in Savannah. Wenn sie klirrende Ketten und verzweifeltes Stöhnen hörte, dann nur in ihrer Fantasie.
Sie drückte die Tür vorsichtig nach innen und fand sich in vollkommener Dunkelheit wieder. Einen Augenblick lauschte sie angestrengt. Außer einem leisen Rascheln, das sicher Ratten oder Mäuse verursachten, und einem kühlen Windhauch, der andeutete, dass es am Ende des Tunnels einen Ausgang geben musste, war weder etwas zu hören noch zu spüren.
Doch ohne Licht konnte sie in dem dunklen Gang wenig ausrichten. Sie lief zurück nach oben, holte die kleine Taschenlampe aus der Anrichte im Flur und kehrte in den Keller zurück. In ihrer Aufregung vergaß sie völlig, wie gefährlich ihr Vordringen in den vielleicht baufälligen Gang sein konnte. Und wer wusste schon, was sie in der Dunkelheit noch erwartete? Aber sie war fest entschlossen, das Rätsel der seltsamen Geräusche zu lösen oder – falls sie sich alles nur eingebildet hatte – wenigstens den Gang zu erkunden. Ihr fiel gar nicht auf, dass es mitten in der Nacht war und sie nur T-Shirt, Jogginghose und Crocs trug.
Mit der eingeschalteten Taschenlampe drang sie in den Geheimgang vor. Der Lichtkegel geisterte über den festgetretenen Boden und die dunklen Wände, glitt über den Schmutz, der sich in dem Gang gesammelt hatte. Ihre Schritte hallten in der fast vollkommenen Stille leise von den Wänden wieder. Ihre Vermieterin hatte den Geheimgangnie betreten und die Tür nicht einmal geöffnet, als sie ihr das Haus gezeigt hatte. Ihre Angst vor den Geistern, die überall in Savannah ihr Unwesen treiben sollten, war zu groß.
Alessa hatte keine Angst, zumindest redete sie sich das ein. Als Staatsanwältin, auch wenn sie erst ein halbes Jahr im Amt war, hatte sie genug schreckliche Dinge gesehen, um beim Anblick einer Ratte oder Maus
Weitere Kostenlose Bücher