Ghost Street
dass er für immer schweigt!«, hörte sie die heisere Stimme des brutalen Kerls.
Gleich darauf quietschte die Kellertür und die Schritte der Schwarzen und das Klirren der langen Kette wurden leiser. »Runter mit euch! Vorwärts!«, scheuchte sie der Sklavenjäger die Treppe hinab. Er versetzte dem Letzten in der Reihe einen derben Tritt und warf die Tür hinter ihnen zu.
»Und nun zu dir, Schätzchen!«, rief der Sklavenjäger nach oben. »Höchste Zeit, dass wir beide uns endlich näher kennenlernen!« Seine Schritte polterten über die hölzerne Treppe, kamen näher und verstummten vor ihrer Tür.
Alessa hielt vor lauter Angst den Atem an. Ihre linke Hand verkrampfte sich um den Vorhang, mit der rechten hielt sie sich an einem Bettpfosten fest. »Nein!«, flehte sie leise. »Bitte nicht!«
Die Tür sprang auf und der vierschrötige Mann stolperte in den Raum. »Hab ich dich, du kleines Biest!«, tönte er.
Sie wich ängstlich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Fensterbrett stieß, beobachtete mit geweiteten Augen, wie er näher kam.
»Bitte … bitte nicht!«, stammelte sie.
»Jetzt bist du fällig!«, rief er.
Das Knallen seiner Peitsche riss Alessa aus ihrem Albtraum. Sie fuhr schweißnass in ihren Laken hoch und blickte entsetzt in die Dunkelheit, beruhigte sich erst, als ihr klar wurde, dass sie nur geträumt hatte und kein gewalttätiger Mann in ihrem Zimmer stand. Der grausame Sklavenjäger, der vor mehr als hundert Jahren in ihrem Haus gelebt hatte, lag längst unter der Erde.
Sie entspannte sich und trank von dem Wasser, das sie auf ihrem Nachttisch deponiert hatte. Danach ging es ihr besser. Nur um sicherzugehen, stand sie auf und trat ans Fenster, blickte in den Garten und auf die Straße hinab und sah niemanden außer einer fremden Katze, die durch das offene Tor hetzte und in der Dunkelheit verschwand. Ihr eigener Kater konnte es nicht gewesen sein, der war immer noch krank und lag geschwächt in seinem Korb.
Mit dem Ärmel ihres langen T-Shirts, das sie statt eines Nachthemds trug, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. War denn schon Vollmond? Bei Vollmond träumte sie meist schlecht, aber der Mond und die Sterne hatten sich hinter dichten Wolken versteckt, die wahrscheinlich am nächsten Tag wieder für Regen sorgen würden. In dieser Hinsicht unterschied sich Georgia kaum von Florida, auch hier gab es nur drückende Hitze oder strömenden Regen.
Geräusche drangen von unten herauf, das Klirren einer Kette und das Scharren nackter Füße. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie die bedrohlichen Laute auf diese Weise vertreiben, doch sie blieben und ließen sie auf dem Weg zu ihrem Bett erstarren.
Mike, war ihr erster Gedanke, dann fiel ihr ein, dass er ihren Schlüssel zurückgegeben hatte. War er etwa durch die Hintertür eingedrungen? Hatte er getrunken, und verleitete ihn seine Eifersucht dazu, eine Dummheit zu begehen? Unmöglich, dachte sie, so etwas würde er niemals tun. Wenn man Angst hatte, kamen die seltsamsten Gedanken. Der Kater, wahrscheinlich der Kater, er kotzte wieder in den Flur.
Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und schlüpfte in ihre Jogginghose. In den Crocs, die sie als Hausschuhe benutzte, schlich sie zur Tür. Du bist verrückt, Alessa, sagte sie sich, gehst Gespenster jagen, anstatt ordentlich auszuschlafen.Du hast morgen Mittag eine wichtige Verhandlung, da musst du topfit sein, und bei Lydia Murrell wolltest du auch noch mal vorbeisehen. Du brauchst deinen Schlaf, sonst klappst du zusammen.
Doch sie hörte nicht auf ihre innere Stimme und öffnete vorsichtig die Tür. Das Notlicht, das im Parterre an einer Steckdose hing, leuchtete schwach herauf. Kein Sklavenjäger, keine Gefangenen. Auch kein Kater.
Anscheinend war ihr Albtraum so stark und nachhaltig gewesen, dass sie auch nach dem Aufwachen noch darin gefangen war. Oder hatte ihre Vermieterin recht? Spukte es in diesem alten Haus wirklich? Selbst intelligente und vernünftige Menschen wie die schwarze Anwältin, gegen die sie oft vor Gericht antreten mussten, glaubten das.
Auf leisen Sohlen schlich sie ins Erdgeschoss hinab. Schon nach zwei Schritten hörte sie die Geräusche erneut, diesmal etwas lauter und deutlicher. Sie kamen aus dem Keller. Das Klirren einer Kette, das verzweifelte Schreien und Stöhnen von Menschen.
Alessa war nicht so abergläubisch wie die schwarze Anwältin und ließ sich keine Angst einjagen. Es gab keine Geister und schon gar nicht in ihrem Keller.
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