Ghost Street
Zufall habe ich herausgefunden, dass er eine schwarze Freundin hatte. Florence Hawkley. Sie arbeitete als Zimmermädchen bei einer reichen Familie in Claxton. Nicht mal ihre Eltern wussten von ihrer Beziehung, das wäre viel zu gefährlich gewesen. Wenn der Klan davon Wind bekommen hätte, wäre auch sie ermordet worden. Auch nach seinem Tod verriet sie es nicht, aber sie legte Blumen am Highway 280 ab, an der einsamen Kreuzung, an der Toby im Bus starb.«
»Und woher weißt du das alles?«
Er zuckte die Achseln. »Ich recherchiere schon ziemlich lange, da findet man einiges heraus. Zum Beispiel, dass Florence noch immer in Claxton wohnt, in einem Altersheim. Seniorenresidenz nennt man das heute wohl. Und dass sie alle paar Wochen mit dem Bus nach Pembroke fährt, in die kleine Kirche, in der viele Schwarze damals für Toby Snyder beteten. Sie ist jetzt sechzig, hat alle Krankheiten, die man sich vorstellen kann, und liebt ihn immer noch. Sie hat nie geheiratet … und ihr Geheimnis bewahrt.« Er lächelte. »Du bist die Erste, der ich es verrate, weil Flo sicher dasnächste Opfer sein soll. Flo … so nennt sie jeder in dem Altersheim.«
»Dann werde ich dafür sorgen, dass sie ebenfalls unter Polizeischutz gestellt wird«, versprach Alessa. Sie blickte ihm tief in die Augen und spürte, wie ihr Mund trocken wurde. »Du bist ein geheimnisvoller Mann, David. Du weißt mehr über Jeremy Hamilton, als ich für meine Seminararbeit herausbekommen habe, und ich habe wirklich gründlich recherchiert. Du weißt Dinge, die wahrscheinlich ausgereicht hätten, um Jeremy Hamilton für alle fünf Morde ins Gefängnis zu schicken, obwohl das kaum einen Unterschied gemacht hätte. Du gehst nachts auf Friedhöfen und in der Ghost Street spazieren, als wärst du selbst ein Geist. Wer bist du, David?«
Er fasste sie an den Schultern und lächelte geheimnisvoll. Man spürte, dass er etwas sagte, was er eigentlich nicht sagen wollte. »Ich bin der Mann, der eine Frau wie dich heiraten wollte, und der nie die Gelegenheit bekam, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen. Ich hätte dich geliebt, Alessa!«
Er küsste sie zärtlich auf den Mund, doch bevor sie ihre Arme um seinen Hals schlingen konnte, löste er sich von ihr und ging ohne Abschied davon. Er lief zu einem der Gräber an der Friedhofsmauer und blieb davor stehen. Fassungslos beobachtete sie, wie er mit der Nacht verschmolz und einfach verschwand.
Unfähig, eine Reaktion zu zeigen, starrte sie in die Richtung, in der er verschwunden war. »Das ist doch …«, flüsterte sie nur. »Das ist doch unmöglich!« Sie lief zu dem Grabstein, beugte sich zu ihm hinunter und las im trüben Licht einer Straßenlaterne die Inschrift: »David Bolton, 1942–1972.«
27
Niemand schenkte dem Mann, der das Polizeigebäude durch einen Seiteneingang betrat, besondere Aufmerksamkeit. Er schien einer der zahlreichen Journalisten zu sein, die zu der Pressekonferenz in den City Police Barracks von Savannah erschienen waren.
Ohne seine weiße Kutte und die Kapuze sah er wesentlich zivilisierter aus als in der vergangenen Nacht. Nur seine leicht geröteten Augen erinnerten daran, dass er als Großmeister bei dem Lynchmord dabei gewesen war.
Die Pressekonferenz fand im ersten Stock statt. Der Lieutenant in seiner Paradeuniform, Special Agent Matthew Sunflower in einem Maßanzug und der Pressesprecher der Polizei saßen auf dem Podium und entledigten sich der unangenehmen Pflicht, die nach einem so grausamen Mord wie an Homer Middleton unabdingbar war. Alle Fernsehstationen und Zeitungsredaktionen des Countys waren vertreten.
Der Pressesprecher begrüßte die versammelten Medienvertreter, betonte die gute Zusammenarbeit zwischen Behörden und Presse, eine Bemerkung, die den meisten Journalisten ein spöttisches Lächeln entlockte, und schilderte in nüchternen Worten, was auf der Middleton-Farm geschehen war. »Die Savannah Police und das FBI werden natürlich alles daransetzen, um den Mörder so schnell wie möglich festzunehmen und seiner gerechten Strafe zuzuführen. Wir sind dem Killer mit allen verfügbaren Einheiten auf der Spur.« Er zeigte sein professionelles Lächeln und fuhr fort: »Bevor Sie Ihre Fragen stellen, möchte ichSpecial Agent Matthew Sunflower vom FBI und Lieutenant Frank Stabler vom Savannah-Chatham Metropolitan Police Department bitten, kurz ihre Sicht der Dinge zu schildern. Lieutenant …«
Sehr zum Missfallen von Sunflower ergriff der Lieutenant zuerst das Wort. Nach
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