sie gewusst, dass es so kommen würde, kommen musste – und trotzdem hatte sie sich in Ryan verliebt. Wie konnte sie so dumm sein? Andererseits war es nicht möglich gewesen, ihm so nahe zu kommen, ohne ihn zu lieben. Immerhin wusste sie jetzt, dass es ihr überhaupt noch möglich war, so etwas für einen Mann zu empfinden, trotz allem, was passiert war. Kainda schnitt eine Grimasse, weil das den Schmerz dummerweise nicht linderte, und machte sich daran, das Badezimmer wieder in Ordnung zu bringen. Wenn Ryan wiederkam, durfte er keine Tropfen in der Duschkabine oder auf dem Boden finden und erst recht keine feuchten Fußabdrücke von ihr.
Im Schrank fand sie eine noch verpackte Zahnbürste, die sie nach kurzer innerer Debatte benutzte. Wenn sie sie mitnahm, würde Ryan sich höchstens fragen, ob er wirklich noch eine gehabt hatte, und sich dann eine neue kaufen. Es war das Risiko wert, wenn sie dafür endlich wieder ihre Zähne putzen konnte. In der Küche fand sie eine Leinentasche, in der sie die Dinge verstauen konnte, die sie auf ihrer Flucht benötigte. Sie würde sie irgendwo draußen verstecken, damit sie in der Nacht aufbrechen konnte. Viel konnte sie nicht mitnehmen, denn das würde ihm auffallen, also beschränkte sie sich auf das Nötigste wie Nahrung, Wasser und die Zahnbürste. Schließlich fehlte nur noch etwas zum Anziehen. Erneut kehrte sie in das Schlafzimmer zurück und bemühte sich, nicht auf das Bett zu schauen, denn dann würde sie nur hineinkriechen wollen.
Ihr verletztes Bein tat noch weh, doch davon durfte sie sich nicht aufhalten lassen. Es musste alles erledigt sein, bevor Ryan zurückkam, und sie wusste nicht, wie lange sein Warzenschwein dauern oder ob er danach noch in der Klinik bleiben würde. Wenn er dort der einzige Arzt war, konnte er es sich eigentlich gar nicht leisten, so viel Zeit mit ihr zu verbringen. Aber da sie nicht sicher war, ob das stimmte, würde sie so lange mit dem Bein herumlaufen, bis sie fertig war. Mit angehaltenem Atem öffnete sie erneut die Schranktüren. Ryan besaß nicht besonders viel Kleidung, sie schien größtenteils aus Jeans, Trekkinghosen und T-Shirts zu bestehen. Einerseits freute es sie, keine Frauenkleidung im Schrank zu finden, denn das hieß, dass es zurzeit tatsächlich keine ernsthafte Freundin in seinem Leben gab. Andererseits war ihr sein Zeug mindestens fünf Nummern zu groß. Frustriert schlug sie die Schranktüren wieder zu. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass eine seiner Nachbarinnen – wenn es welche gab – ihre Wäsche im Garten trocknete und sie etwas davon stehlen konnte. Was nicht nur einen großen Umstand bedeutete, sondern ihr auch gegen den Strich ging.
In ihrem früheren Leben wäre sie nie auf die Idee gekommen, etwas zu stehlen oder jemandem etwas anzutun, doch seit ihrer Verschleppung aus Afrika blieb ihr keine Wahl, wenn sie überleben wollte. Sie konnte schlecht zur Polizei gehen und verlangen, in ihr Land zurückgebracht zu werden. Ohne Papiere oder einen Nachweis in ihrem Heimatland, dass sie überhaupt existierte, würde sie wahrscheinlich irgendwo eingesperrt werden, weil sie eine illegale Einwanderin war und nicht abgeschoben werden konnte. Und das auch nur im besten Fall.
Kainda humpelte langsam ins Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer. Wenigstens das konnte sie erledigen, und Jamila musste sich nicht länger fragen, was aus ihrer Schwester geworden war. Sie schaltete den PC an und sah sich um, während er hochfuhr. Es war deutlich zu sehen, dass Ryan den Raum nur zur Arbeit benutzte und sich keine Mühe gegeben hatte, ihn ansprechend zu dekorieren. Eine kurze Melodie kündigte an, dass der PC betriebsbereit war. Als Hintergrundbild hatte er eine Landschaft gewählt, die sie schmerzlich an ihre Heimat erinnerte. Zögernd legte Kainda ihre Hand auf die Maus und klickte den Browser an. Sie rief die Adresse ihres Webmail-Servers auf und loggte sich mit ihrer E-Mail-Adresse und dem Passwort ein. Das Risiko, dass Ryan merkte, dass jemand anderes als er den Computer benutzt hatte, war zwar nicht von der Hand zu weisen; aber dazu hätte er einen konkreten Verdacht haben müssen, und das war unwahrscheinlich, schließlich hielt er sie für eine Leopardin und vermutete sie ganz sicher nicht an seinem Computer. Für einen Moment starrte sie an die weiße Wand, bis ihr die E-Mail-Adresse der Berglöwenwandler wieder einfiel.
Von: Kainda
An:
[email protected] Betreff: Nachricht an Jamila
Jamila,
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