Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
zum Kriminalkommissar gebracht, aber er verlor viel zu schnell den Überblick. Das machte wenig Hoffnung auf eine zukünftige erfolgreiche Zusammenarbeit. Gerade sagte Berger: »Als Lydia Krasniqi den Toilettenraum verlassen wollte, stürzte aus dem Klassenzimmer gegenüber ein Junge. Ihrer Beschreibung nach handelte es sich dabei um Lukaz. Asim hielt sich bereits am Ende des Flures auf.«
»Hat sie ihn gesehen?«
»Ja. Und noch viel mehr.« Bergers Hände suchten seinen Bart und rollten die Enden zu sorgfältigen Spitzen zusammen. »Sie konnte eine weitere Person in dem Klassenzimmer ausmachen. Diese trug Jeans und ein Kapuzenshirt. Sie hatte eine Waffe in der Hand. Aus einem alten Reflex heraus – von den Kriegstagen im Kosovo – ging Frau Krasniqi sofort in Deckung. Kurz darauf hörte sie Schritte auf dem Gang und anschließend die Tür zum rückwärtigen Treppenhaus schlagen.«
»Es war also noch ein dritter Schüler beteiligt?«
»Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise handelt es sich bei der fraglichen Person auch um einen ganz anderen Täter, der uns glauben machen will, dass wir es mit Amok laufenden Schülern zu tun haben.«
»Ein Kollege von Brodbeck?«
»Da Frau Krasniqi einen kurzen Blick ins Gesicht unter der Kapuze werfen konnte, haben wir noch gestern Abend eine Gegenüberstellung vorgenommen. Ihrer Aussage nach war der Täter eine Person im Alter zwischen 40 und 50, aber keiner der Lehrer.«
»Wer dann?«
Berger vergrub die Nase in seinen Papieren. Diesmal wurde er bemerkenswert schnell fündig. Mit einer abwertenden Handbewegung warf er ein Phantombild quer über den Tisch. Es landete kopfüber vor Kalkbrenner. Auch ohne die Zeichnung umzudrehen, konnte er das blasse Täterporträt erkennen. Ein konturloses Allerweltsgesicht, das jedem von ihnen hätte gehören können, sogar Rita.
»Besser konnte Frau Krasniqi ihn nicht beschreiben?«
»Nein.« Berger griff zur Tasse und nahm einen Schluck. Als er sie absetzte, war sein Gesicht eine angewiderte Grimasse. »Haben wir noch warmen Kaffee?«
Rita sprang behände auf, schüttete den kalten Kaffee weg und schenkte ihm neuen ein. Derweil fuhr Berger mit seinen Ausführungen fort: »Die Person, die Frau Krasniqi gesehen hat, entkam durch das rückwärtige Treppenhaus. Daraus können wir schließen, dass der Täter über einen Schlüssel für dieses Treppenhaus verfügt haben muss, denn seit einigen Vorfällen von Vandalismus sind die Türen verschlossen und nur noch dem Lehrpersonal zugänglich.«
»Und den Reinigungskräften«, betonte Rita, die sich wieder auf ihren Platz gesetzt hatte.
»Demnach haben wir es mit einem raffinierten Mordplan zu tun«, resümierte Kalkbrenner. »Der Täter verschafft sich nach Unterrichtsschluss Zugang zur Schule, tötet den Lehrer und richtet es so ein, dass zwei ohnehin vorbestrafte Schüler, die den Lehrer hassen, als Mörder unter Verdacht geraten.«
»Was meinst du«, fragte Berger, »war es vom Mörder auch beabsichtigt, dass die beiden ihn auf frischer Tat ertappen?«
Kalkbrenner verneinte. »Aber das spielt auch keine Rolle. Der Täter konnte davon ausgehen, dass so oder so niemand den vorbestraften Jungs ihre Geschichte abkaufen würde.« Kalkbrenner schaute in die Runde. »Ihr wart ja bislang auch fest von ihrer Schuld überzeugt.«
»Natürlich«, rechtfertigte sich Berger, »es gab ja auch keinerlei Spuren eines weiteren Verdächtigen, aber dafür eindeutige Hinweise darauf, dass zumindest einer der beiden Jungs – Lukaz – während der Tat zugegen war.«
»Genau«, rief Dr. Salm. »Wir können also davon ausgehen, dass er den Täter gesehen hat und ihn somit identifizieren kann. Kalkbrenner, Sie müssen die beiden Jungs finden. So schnell wie möglich.«
»In Neukölln?«, fragte Kalkbrenner skeptisch.
»Aber ja. Deswegen habe ich Sie doch aus dem Urlaub gerufen.« Der Dezernatsleiter hämmerte mit der Faust auf den Tisch. Der Kaffee, von dem er noch keinen Schluck getrunken hatte, schwappte über den Tassenrand. »Sie haben sich doch schon einmal im Berliner Bodensatz bewährt.«
Kalkbrenner empfand den Begriff
Bodensatz
als reichlich unglückliche Bezeichnung für die sozialen Härtefälle der Stadt. Aber er unterließ es, den Chef zu korrigieren, viel wichtiger war, dass er erhebliche Zweifel daran hatte, dass sich dieser Fall auf so einfache Weise lösen lassen würde.
Vor nicht ganz zwölf Stunden war er noch mit Bernie am Strand entlangspaziert, ohne einen
Weitere Kostenlose Bücher