Giftspur
dieses Auto niemals hergeben, so viel stand fest. Weder dieses unsägliche Gefährt seiner Kollegin, die im Gegenzug nichts als Skepsis für seinen Niva übrighatte, noch irgendein anderes Auto würden ihm je ein besserer Begleiter sein.
Ruhig, altes Mädchen,
dachte er und ließ die Handfläche sanftmütig über das glanzlose Jägergrün der Motorhaube gleiten.
»Sie haben sich ja ganz schön Zeit gelassen«, erklang Claudias Stimme vom oberen Ende der Treppe. Eingehüllt in eine Wolljacke und mit verschränkten Armen trotzte sie den eisigen Windböen, deren Geschmack Neuschnee versprach. Ihr Atem kondensierte, als blase sie Zigarettenrauch aus, wurde jedoch sofort verwirbelt. In der Ferne pfiff ein Ziegel und erinnerte den Kommissar mit einem wohligen Schauer an eine Geschichte, die ihm als Kind erzählt worden war.
Eine wahre Geschichte,
wie sein Pflegevater stets zu betonen gewusst hatte, und für einen kaum Zehnjährigen, zumindest damals, das höchst erträgliche Maß an Grusel.
In den Pyrenäen, weit oben, lag eine kleine Siedlung, nur eine Handvoll Häuser. Ihre Bewohner waren Hirten, die ihre Schafe und Ziegen auf den kargen Weiden hielten. Im Winter, wenn es so kalt wurde, dass ein bestimmter Ziegel auf dem Dach zu pfeifen begann, mussten die Bewohner sich und ihr Vieh schnellstmöglich in Sicherheit bringen. Denn dann kamen von den schneeumklammerten Gipfeln die hungrigen Wölfe hinab bis ins Dorf.
Jedes Mal wurde die Geschichte ausgeschmückt und angereichert mit den wildesten Phantasien. Aber zwei Dinge blieben konstant: der
Wolfsziegel,
und mit ihm eine unbegründete, aber zeit seines Lebens nicht überwindbare Angst vor Wölfen. Selbst die späte Erkenntnis, dass es sich bei dem Szenario um einen französischen Roman gehandelt hatte, vermochte auch gut drei Jahrzehnte später nichts mehr daran zu ändern.
»Wir sind unmittelbar nach Ihrem Anruf aufgebrochen«, hörte Angersbach seine Kollegin sagen, und ihre Stimme klang frostig, so wie alles an jenem Vormittag unterkühlt wirkte. Sie folgten der Frau, deren Haare nur flüchtig gekämmt waren und die sich heute wie eine scheue Katze bewegte. Drinnen prallte ihnen abgestandene Heizungsluft entgegen. Angersbach warf seinen Mantel über eine Lehne und hielt seiner Kollegin stumm auffordernd den Arm hin, um auch den ihren zu nehmen. Sabine nickte dankbar und lauschte derweil Claudias knapper Schilderung ihres bisherigen Tagesablaufs. Sie beendete ihren Bericht mit dem Öffnen und Lesen des Schreibens, welches sie, in einer Klarsichtfolie steckend, von der Tischplatte hob.
»Ich habe es eingetütet, aber habe es überall angefasst«, gestand sie, »das Gleiche gilt für den Umschlag.«
Sabine betrachtete das Papier nachdenklich, dann reichte sie es an Angersbach weiter.
Die Milch macht’s.
Ralph Angersbach erinnerte sich an eine breit angelegte Werbekampagne aus den achtziger Jahren, die mit diesem Slogan für Schulmilch geworben hatte. Sein alter Schrank war damals mit roten und blauen Aufklebern übersät gewesen, doch das war Jahrzehnte her. Weshalb wählte der Unbekannte diese Worte?
»
EILT
! ist mit der Hand geschrieben«, stellte er grübelnd fest und räusperte sich. »Wir werden das Papier dennoch ins Labor geben, wundern Sie sich also bitte nicht, falls Ihnen jemand die Fingerabdrücke abnehmen möchte.«
»Die von Volz müssen Sie auch nehmen«, erwiderte Claudia leise. Es war nicht zu übersehen, dass der anonyme Brief sie schwer getroffen hatte, denn von ihrem angriffslustigen Gebaren, dem Feuer in ihren Augen und der koketten Stimme war nicht viel übrig. »Ich habe ihm den Wisch gezeigt.«
»In Ordnung, danke. Noch wer?«
»Nein.«
»Haben Sie noch etwas unternommen, außer uns und Herrn Volz zu informieren?«, erkundigte sich der Kommissar, und Claudia starrte ihn mit leeren Augen an, als blicke sie durch ihn hindurch. Endlich antwortete sie: »Ich habe E-Mails abgerufen, wegen dieser letzten Zeile dort«, sie deutete in Richtung des Briefes, der nun vor Angersbach lag. Er warf einen Blick auf die entsprechenden Worte.
E-Mail für Dich.
Im Grunde der einzige Handlungshinweis, der diesem recht untypischen Schreiben zu entnehmen war. Er nickte und bedachte Frau Reitmeyer mit einem fragenden Blick. Diese neigte sich zur Seite und zog ihren Laptop auf die Knie, ein mit schwarzem Klavierlack überzogenes Edel-Notebook. Sie klappte den Monitor nach oben, wartete einige Sekunden und starrte wie gebannt auf die sich aufbauende Grafik.
Weitere Kostenlose Bücher