Gleichklang der Herzen
du mich, Ravella?“
Wortlos öffnete sie die Tür. Hugh Carlyon saß unverändert so da, wie sie ihn verlassen hatte. Jetzt sprang er auf und sah ihnen angespannt entgegen.
„Hugh, ach Hugh, mein Liebster!“
Lady Harriette streckte ihm beide Hände entgegen. Ihr schönes Gesicht war verklärt. Dann legte sie die Arme um seinen Hals und blickte ihn zärtlich an. Ravella sah, wie er sie mit einem Arm an sich drückte, und hörte, wie er fast schluchzend ihren Namen flüsterte.
Sie ließ das Paar allein, ging zurück zum Boudoir und legte Lady Harriettes Stickerei nachdenklich in den Handarbeitskorb. Auch ihre Augen waren feucht geworden. Das ist Liebe, echte Liebe, dachte sie. Dann fragte sie sich schmerzlich, ob der Herzog solche Liebe wohl für Señorita Deleta empfand? Es ließ ihr keine Ruhe. Sie musste die Sängerin in Vauxhall aufsuchen, sie aus der Nähe sehen und möglichst mit ihr sprechen.
Später am Nachmittag kam Lady Harriette strahlend zurück und umarmte Ravella.
„Oh, ich bin so glücklich! Es kommt mir vor wie ein Traum.“
„Werden Sie ihn heiraten?“
„Natürlich, aber Hugh will erst mit Sebastian reden und bei ihm formell um meine Hand anhalten.“
„Auch ich freue mich von Herzen“, sagte Ravella. „Warum bin ich nur nicht früher auf den Gedanken gekommen, dass Hauptmann Carlyon Ihr entschwundener Liebhaber ist? Er hatte mir so dringend nahegelegt, ich dürfte Ihnen nicht verraten, wer er sei.“
Nach dem Abendessen überreichte der Butler ein Briefchen für Lady Harriette. Ravella ahnte, wer ihn geschrieben hatte. Lady Harriette gab ihr eilig einen Gutenachtkuss und zog sich zurück, um den Liebesbrief zu lesen.
Nun war der Zeitpunkt gekommen, ihr Vorhaben auszuführen. Ravella zog sich um, befahl Lizzie, den Mund zu halten, und ließ eine Droschke kommen. Zum Glück gehorchte Nettleford, der Butler, ohne weitere Fragen zu stellen.
Als Ravella am Eingang zu den Gärten von Vauxhall angelangt war, sah sie eine große Menschenmenge, die festlichen Lampions und wurde von Furcht ergriffen. Aber nun gab es kein Zurück mehr. Sie bezahlte das Eintrittsgeld von drei Schilling und Sixpence und ging entschlossen durch die hell erleuchtete Allee zur Rotunde. Viele lachende und schwatzende Leute gingen in dieselbe Richtung. Es beruhigte Ravella, dass niemand sie besonders beachtete.
Nun stand sie vor der großen, überwölbten Kolonnade, die von schmiedeeisernen Pfeilern gestützt und mit Ketten farbiger Lampen dekoriert war. Zu den Klängen eines Orchesters promenierte das Publikum auf und ab. In einiger Entfernung bemerkte sie die Dächer anderer Pavillons und tempelartiger Bauten. Alle waren illuminiert und wurden eifrig vom Publikum besucht.
Das neue Balletttheater erkannte sie nach den Beschreibungen und Skizzen aus den Zeitungen. Die große Bühne war in diesem Augenblick leer, nur die Kulissen waren schon aufgebaut, vor denen sich eine Schau mit dem Titel „Die Bucht von Neapel“ abspielen sollte.
Langsam füllten sich die Logen, in denen man auch sehr gut soupieren konnte, mit Gästen. Frauen mit Körben voller Erdbeeren und Kirschen boten lauthals ihre Ware an.
Ravella bestaunte alles, versuchte jedoch herauszubekommen, ob die Señorita schon aufgetreten war oder wann sie singen würde. Das Programm in der Hand einer dicken Frau vor ihr, das sie einsehen konnte, führte nur einen indischen Akrobaten, einen Schwertschlucker und einen Seiltänzer auf.
Plötzlich verstummte das Streichorchester. Ein Ansager trat an die Rampe und kündigte die nächste Nummer an. Señorita Deleta würde zwei Lieder vortragen. Sofort strömten noch mehr Leute voller Erwartung herbei.
Die Geiger ließen die Saiten ihrer Instrumente in einem kräftigen Akkord erklingen. Schon stand die Señorita an der Rampe und stützte ihre Hände auf die festlich erleuchtete Balustrade. Mit einer leichten Verbeugung dankte sie dem Publikum für den Beifall. Dann setzte die Begleitmusik ein, und sie begann ihr Lied.
Für eine Sängerin war sie überraschend zierlich. Ihre großen dunklen Augen waren stark geschminkt. Das blauschwarze Haar war straff von der Stirn zurückgenommen. An ihren Ohrläppchen schaukelten und blitzten mit Juwelen besetzte Ohrringe.
So unerfahren Ravella war, spürte sie doch, dass es sich bei ihr nicht um eine gewöhnliche Sängerin handelte. Es war nicht nur die wundervolle Stimme, sondern auch die leidenschaftliche Art ihres Vortrags, die das Publikum hinriss. Ihrem
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