Glockengeläut
Brokat behangener Schminktisch, der jedoch eher wie ein Altar wirkte, zumal kein Stuhl davorstand. Rechts entdeckte ich ein Fenster, das von schweren dunkelroten Vorhängen verdeckt wurde, wahren ›Staubfängern‹, wie meine Mutter gesagt hätte. Zu beiden Seiten des Fensters standen, an die Wand gerückt, zwei große dunkle Truhen. Mehrere der in diesem Haus üblichen Jugendstilleuchter schwebten hoch oben an den Wänden, doch ihre Glasfacetten waren so dunkel, daß der Raum nur unwesentlich heller als der dämmrig beleuchtete Korridor erschien. Das einzige Bild des Raums hing über dem Kopfende des Bettes in der Ecke links von der Tür.
»Was für ein schönes Zimmer!« rief ich höflich aus.
Ich lugte indes über meine Schulter zurück, ob etwa der schwarze Hund durch die offene Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors erschien.
»Weil so viele Leute darin gestorben sind«, sagte Madame A. »Die beiden schönsten Dinge des Lebens sind die Liebe und der Tod.«
Ich ging in den Raum hinein.
»Schließen Sie die Tür«, befahl Madame A.
Ich schloß sie. Von dem Hund hatte ich immer noch nichts gesehen. Ich versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken.
»Die meisten ihrer Kleider sind hier drin«, klärte Madame A. mich auf. Sie drückte auf die Täfelung am Fußende des Bettes; zwei weitere Schranktüren öffneten sich, dann noch ein Paar und schließlich ein drittes. Hinter der ganzen Länge dieser Wandvertäfelung lagen tiefe Schränke.
»Kommen Sie, sehen Sie«, sagte Madame A.
Obwohl ich es albern fand, ging ich zu ihr hinüber. Alle drei Schränke waren mit Kleidern gefüllt, die, ganz wie in einem Geschäft, an einer Stange in der Mitte hingen. Wären es antiquarische Fetzen oder Leichenhemden für Schwangere gewesen, es hätte mich kaum erstaunt; statt dessen handelte es sich aber um ganz normale Kleidung einer Frau von heute, die, soweit ich das beurteilen kann, von ausgesprochen hoher Qualität zu sein schienen. Für jeden Zweck, für jede Jahreszeit gab es die angemessene Kleidung: Winterkleider, Sommerkleider sowie eine große Anzahl jener langen Abendkleider, die man heute immer weniger zu sehen bekommt. Alle Kleidungsstücke wirkten, als würden sie sorgsam gehütet, als warteten sie darauf, verkauft zu werden. Der Gedanke drängte sich mir auf, daß die Wahrheit in dieser Richtung liegen mochte: Diese Kleider waren wahrscheinlich niemals getragen worden. Zudem sah der Raum extrem unbewohnt aus. Von den Kleidern einmal abgesehen, wirkte er eher wie eine Kapelle denn ein Schlafzimmer. Wie eine Leichenhalle, durchzuckte es mich; mit einer Ansammlung toter Körper, unter Massen von Blumen erstickt, Körper, die auf jenem bahrenähnlichen Bett links der Tür zur letzten Ruhe ausgestreckt lagen, wie Madame A. es in solch bedrückender Weise zuvor angedeutet hatte.
»Berühren Sie die Kleider«, befahl Madame A., die wohl meine Gedanken las. »Nehmen Sie sie heraus, betrachten Sie die Spuren von Chrysothèmes Körper.«
Ich zögerte. Wenn man nicht gerade Schneider von Beruf ist, verabscheut man zunächst instinktiv den Kontakt mit der Kleidung anderer Leute, wer immer es auch sein mochte, und ganz besonders natürlich mit der Kleidung von Fremden.
»Nehmen Sie sie heraus«, wiederholte Madame A. in ihrer herrischen Art.
Behutsam holte ich eines der Kleider von seinem Bügel. Es war ein wollenes Alltagskleid. Selbst in dem dürftigen Licht war es ganz offensichtlich, daß es getragen worden war.
Nach diesem schweigenden Akt zeigte sich Madame A. unzufrieden mit meiner schüchternen Wahl. Sie selbst zog nun ein Abendkleid aus blasser Seide hervor.
»Wundervoll, exquisit, unvergleichlich«, rief sie schrill. Ich vermute, daß sie bei angemessener Größe das Kleid gegen ihren eigenen Körper gehalten hätte, wie die Verkäuferinnen in Läden das immer tun; bei Lage der Dinge konnte sie das kostbare Stück nur mit ausgestreckten Armen hochraffen, so daß der größte Teil wie eine Schleppe über den dunkelroten Teppich floß. »Knien Sie nieder und schauen Sie es an.« Ich zögerte abermals. »So knien Sie schon!« rief Madame A., diesmal noch bestimmender.
Ich kniete mich hin und ergriff den Saum des Gewands. Nun, da ich dem Boden so nahe war, entdeckte ich einen großen dunklen Fleck, den selbst das Dunkelrot des Teppichs nicht ganz zu verbergen vermochte.
»Heben Sie das Kleid an Ihr Gesicht«, befahl Madame A. Ich tat es. Es war ein wunderbares Gefühl. Ich spürte, wie ich von
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