Glockengeläut
einem vielschichtigen, seidenweichen Nebelgebilde eingehüllt wurde. Die Besitzerin oder Trägerin dieses eleganten Gewands begann auf eine unbeschreibbare Weise mehr Wirklichkeit für mich zu gewinnen als Madame A.
Madame A. ließ das Kleid fallen und hielt bereits ein anderes, ähnliches vor mich hin. Auch diesmal war es ein langes Abendkleid. Es bestand aus einem Stoff, den man meines Wissens nach Georgette nennt, und war orange-rot gesprenkelt.
Das pastellfarbene Seidenkleid lag auf dem Boden zwischen uns.
»Knien Sie darauf. Treten Sie ruhig darauf herum«, kommandierte Madame A., als sie sah, wie ich es vorsichtig Umschritt. »Chrysothème würde es gutheißen.«
Ich war indes unfähig dazu und näherte mich um das Seidengewand herum behutsam dem Georgettekleid. In eben der Sekunde, als ich es erreicht hatte, warf mir Madame A. das Kleid über den Kopf, so daß ich einige lächerliche Augenblicke lang damit beschäftigt war, mich aus diesem Fangnetz zu befreien. Ich kam nicht umhin zu bemerken - oh, es war weitaus mehr als ein ›Bemerken‹ -, daß das Georgettekleid mit einem bezaubernden Duft durchtränkt war. Ihr Duft machte die Trägerin dieses Kleids wirklicher für mich als je zuvor.
Ein Stückchen weiter links von mir griff Madame A. sich nun ein drittes langes Kleid, diesmal aus dunkelblauem Taft, sehr eng und knapp geschnitten.
»Sie könnten es beinahe selbst tragen«, kicherte Madame A. »Sie tragen doch gern Blau, und dünn genug sind Sie auch.« Natürlich hatte ich ihr nie erzählt, daß ich am liebsten Blau trage, doch war es wohl nur zu offensichtlich.
Madame A. drehte mit ihrem Fuß den Stuhl herum und bettete das Kleid so darauf, daß das tiefausgeschnittene Oberteil offenherzig über die Rückenlehne floß.
»Warum küssen Sie es nicht?« schlug Madame A. mit kaum merklichem Hohn in der Stimme vor.
Während ich vor dem Stuhl kniete, wurde mir klar, daß meine Lippen nur Millimeter über dem Stuhlsitz schwebten. Eine Weigerung wäre in dieser Lage lächerlicher gewesen, als zu gehorchen. Ich senkte mein Gesicht und preßte meine Lippen auf das Kleid. Madame A. mochte mich ruhig verspotten, doch dachte ich nun nur noch an die andere, die jene Kleider trug.
Als ich wieder aufblickte, hatte Madame A. leibhaftig einen anderen Stuhl erstiegen (es gab nur zwei in diesem Raum, die ursprünglich beide in den Ecken gestanden hatten, beide schwer, dunkel und kunstvoll verziert). Sie hielt ein kurzes Kleid aus schwarzem Samt empor. Sie sagte nichts, und ich muß gestehen, daß ich ohne weitere Aufforderung auf sie zu stürzte und den wundervollen Stoff gegen mein Gesicht drückte.
»Der Mond«, sagte Madame A. mit rauher Stimme, während sie auf das Blaßseidene am Boden zeigte. »Und die Nacht.« Sie ließ das kleine Schwarze auf und nieder und von einer Seite zur andern flattern. Es roch ebenfalls hinreißend. Ich griff danach, um es festzuhalten, doch in meiner Hand war es schlaff.
Madame A. war wie ein Kobold mit einem beherzten Satz von ihrem Stuhl heruntergesprungen.
»Mögen Sie die Kleider meiner Adoptivtochter?«
»Sie sind schön.«
»Chrysothème hat einen ausgezeichneten Geschmack.« Madame A. sprach in einem völlig normalen Ton. Ich sog immer noch den Duft des Samtkleides ein. »Sie müssen ihre Unterwäsche sehen«, fügte sie hinzu, als wolle sie dem zuvor Gesagten Nachdruck verleihen.
Sie ging zu der Truhe links des Fensters hinüber und hob deren unverschlossenen Deckel an. »Kommen Sie«, sagte Madame A. Die riesige Truhe war bis zum Rand mit Unterwäsche in den verschiedensten Farbtönen angefüllt; nicht geordnet wie die Kleider, sondern ganz offensichtlich aneinander haftend und wahllos durcheinandergeworfen.
Ich starrte wohl nur vor mich hin. Und derselbe Duft stieg hypnotisierend aus der Truhe auf.
»Legen Sie ihr blaues Jackett ab«, sagte Madame A. beinahe feierlich. »Rollen Sie Ihre blauen Hemdsärmel hoch und tauchen Sie ihre weißen Arme hinein.«
Ohne zu fragen tat ich, wie sie mich geheißen hatte.
»Betten Sie Ihr Gesicht darin.«
Ich benötigte ihre Instruktionen eigentlich nicht mehr. Der Duft allein war betörend genug.
»Lieben Sie sie, zerreißen Sie sie, besitzen Sie sie«, ermahnte mich Madame A.
Was ich, so gut ich es vermochte, auch tat. Darüber verstrich einige Zeit.
Ich begann zu zittern. Schließlich hatte ich mich zuvor in einem weidlich überhitzten Raum aufgehalten.
Ich bemerkte, daß all meine Muskeln vom Knien und vermutlich von
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