Glückliche Ehe
verlängern, hob dann, um das Elend ihrer kraft- und freudlosen Existenz zu veranschaulichen, ihr marineblau-weißes Krankenhausnachthemd an und entblößte das Loch in ihrem Bauch, aus dem ein etwa drei Zentimeter dicker, durchsichtiger Schlauch kam, sowie eine zweite Wunde für das Einführen eines weiteren Schlauchs in ihren Dünndarm. Das war ein Akt brutaler Offenheit, die sie ihren Eltern bislang erspart hatte.Dorothy und Leonard hatten sie während ihrer langen Krankheit nie gepflegt. Da Margaret in der Zeit nach der Operation und während der härtesten Phasen der Chemotherapie darauf bestanden hatte, dass ihre Eltern in ihrem Winterwohnsitz in Florida blieben, hatten die beiden nie den Kampf ihrer Tochter mit eigenen Augen mit angesehen. Enrique hatte ihnen – nicht aus Sadismus, sondern um sie auf den Schock der Begegnung vorzubereiten – neun Monate lang die medizinischen Prozeduren per E-Mail geschildert. Trotzdem: Der Anblick des nackten, geschundenen Fleischs des eigenen Kindes, auch wenn dieses eine dreiundfünfzigjährige Frau war, verfehlte seine Wirkung nicht.
Obwohl Margaret ihren Bauch schnell wieder bedeckte, sah Enrique den Schmerz in den erschlafften Wangen ihres Vaters und das Entsetzen in den gefrorenen Zügen ihrer Mutter, dem hoch und starr gehaltenen Kopf, und sie taten ihm leid. In ihren blauen Augen glänzten Tränen. Es war, als wären die beiden in Margaret zu einer Person geworden: Von Dorothy stammte die runde Augenform, aber ihre Augenfarbe war blasser als Margarets tiefes, seelenvolles Veilchenblau, das auch unter den Lidern ihres Vaters hervorleuchtete. Da Margaret gar nichts mehr essen konnte, unterbot sie jetzt die trockene Schlankheit ihrer Mutter noch. Leonards rundes Gesicht war bei ihr durch den Krebs abgezehrt, sein lockiges, immer noch dichtes Haar von ihrem Kopf durch die Chemotherapie verschwunden. Beide waren wie immer gut gekleidet, einen Tick formeller als die meisten Krankenhausbesucher. Dorothy in grauem Wollrock und dünnem schwarzem Kaschmirpullover, Leonard in beigen Hosen, weißem Oxfordhemd und blauem Blazer, so standen sie da, ordentlich und brav wie zurechtgewiesene Schulkinder, und lauschten in stummer Qual der Klage ihrer Tochter, mit zitterndem Kinn, feuchten Augen und erstarrtem Brustkorb, als ob sie gar nicht atmeten. Sie gaben sich alle Mühe, nichtzu weinen, wohl in der Annahme, dass Margaret sich durch ihre Tränen noch elender fühlen würde, wenngleich sie sich in Wirklichkeit geliebt gefühlt hätte.
Enrique forschte in ihren Gesichtern, ob dieses Bedürfnis ihrer Tochter nicht doch noch zu ihnen durchdrang. Doch er sah nur Verzweiflung und Angst, und er fragte sich, ob er wohl zum ersten Mal in den dreißig Jahren, die er Dorothy und Leonard jetzt kannte, den Mut finden würde, ehrlich mit ihnen über ihren Umgang mit Margaret zu sprechen. Margaret wollte weder, dass sie an ihrer Entscheidung zu sterben rüttelten, noch, dass sie ihren Schmerz verbargen. Sie wollte von ihnen akzeptiert und bewundert werden. Als Margaret ihren Monolog beendet hatte, verkroch sie sich erschöpft in Enriques Armbeuge (beim Erscheinen ihrer Eltern hatte sie ihn gebeten, sich neben sie zu legen) und lugte aus dieser Deckung hervor wie ein ängstliches Tier. Enrique beschied sich damit, ihre Eltern zu mustern.
Obwohl Dorothys und Leonards emotionales Verhalten auf Enrique, dessen Gemüt Regeln grundsätzlich missachtete, oft ein bisschen kindlich und brav wirkte, wusste er, dass beide außergewöhnlich intelligent waren. Sie stellten ihre gutgemeinten, klischeehaften Bitten, dass Margaret »den Kampf« doch nicht aufgeben möge, sofort ein, als ihnen überwältigend deutlich vor Augen geführt worden war, dass es keinen Kampf mehr zu kämpfen gab. Sie tupften sich schweigend die feuchten Augen – Leonard mit einem Taschentuch aus seiner Gesäßtasche, Dorothy mit einem Papiertaschentusch, das sie aus einer Packung auf dem Nachttisch gezogen hatte. Dorothy kam steif herbei und umarmte ihre Tochter hastig und ungeschickt, vor lauter Angst, die Fassung zu verlieren, die sie wahren zu müssen glaubte. Sie waren von der Situation überwältigt und schlecht dafür gerüstet, ihre Tochter zu trösten, aber sie liebten sie und waren zu klug, um sie noch weiter zu bearbeiten.
Enrique empfand tiefes Mitleid mit ihnen, zum ersten Mal ärgerte er sich nicht über ihre Unbeholfenheit. Natürlich hatten sie ihm schon öfter leid getan, seit er ihnen vor zwei Jahren und acht
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