Glücksboten
reichte ihr das Foto. »Hmm«, machte Kitty nachdenklich. »Du warst damals ein hübsches Mädchen, aber heute siehst du viel besser aus. Vielen Dank, Roger, ich habe es genossen, das Bild wiederzusehen. Wo hast du es gefunden?«
Roger war ein wenig bestürzt über diese Reaktion. Er hatte eine Szene erwartet und keine bekommen. »Oh, auf dem Dachboden, in einer Schachtel mit der Aufschrift Perdita.«
»Und was hat dich bewogen, auf den Dachboden zu gehen? Hattest du dort etwas zu tun?«
»Vielleicht ist er hinaufgegangen, um sich den Sonnenuntergang anzusehen«, meinte Perdita ein wenig trocken.
»Das war es. Ich habe Perdita getroffen, wie sie das Gleiche tat.« Er grinste sie an, als wollte er ein heimliches Treffen dort oben andeuten. »Und ich habe auch noch ein paar andere interessante Dinge gefunden.« Er nahm das Foto vom Bett und schob es wieder in seine Brieftasche.
Perdita, die jede seiner Bewegungen beobachtete, bemerkte bei dieser Gelegenheit eine Visitenkarte mit dem Namen von Kittys Anwalt darauf.
Roger sah, dass sie die Karte entdeckte hatte, und warf ihr einen Blick zu, der sie das Schlimmste befürchten ließ.
»Also mein lieber Roger«, sagte Kitty immer noch in demselben ruhigen Tonfall, »ich glaube, du gehst jetzt besser. Ich bin ziemlich müde. Thomas, wären Sie so nett, Roger hinauszuführen?«
Als sie allein waren, erklärte Kitty: »Diese Seite der Familie war immer schrecklich gewöhnlich.«
Perdita holte bereits Atem, um Kitty zu erklären, dass Gewöhnlichkeit nicht der einzige Fehler dieser Verwandtschaft sei, aber dann sah sie, dass Kitty eingeschlafen war.
Kapitel 20
E twas sagte Perdita, dass Kitty tot war, noch bevor sie die Augen aufschlug. Sie hatte Perdita in der Nacht überhaupt nicht geweckt, und anders als bei vielen anderen Sterbenden war Kittys Atem gleich bleibend ruhig gewesen. Aber vielleicht war es die Stille, die Perdita weckte. Sie kroch aus ihrem Schlafsack, um auf die Uhr zu sehen. Es war Viertel nach fünf am Morgen.
Als sie Kitty sah, war sie sich ganz sicher. Obwohl sie nach einem Puls tastete und dann einen Handspiegel holte, um sicherzugehen, dass zwischen Kittys Lippen kein Atem mehr ging, waren diese Dinge im Grunde unnötig. Kitty war einfach nicht mehr bei ihnen.
Perdita wartete auf die Tränen, auf das Aufwallen tiefer Traurigkeit, aber nichts davon wollte sich einstellen. Sie fühlte sich absolut ruhig und erleichtert um Kittys willen. Von ihrer Warte aus musste es besser sein: Sie war wirklich tot, nicht nur überwiegend tot, voller Schläuche und Röhren und Medikamente, die sie noch ein paar Wochen am Leben hielten, ihr aber ihre Gesundheit nicht wiedergeben konnten. Perdita und Kitty hatten darüber gesprochen, wenn auch nicht häufig, so doch oft genug, dass Perdita genau wusste, wie ihre Freundin zu dieser Frage gestanden hatte.
Außerdem war es wunderbar, dass ihr die Verlegung in ein Heim und alles damit Verbundene erspart geblieben war. Wäre Kitty in einem besseren Zustand gewesen, hätte das Leben im Heim viele Aspekte gehabt, die ihr gefallen hätten - sie hätte über die anderen Bewohner murren können, hätte sich gegen das Personal auflehnen und die Regeln missachten können, und all das hätte sie in Entzücken versetzt. Aber in letzter Zeit war sie für Rebellion und boshafte Sticheleien zu krank gewesen.
Und es war schön, dass Kitty die Fernsehsendung noch gesehen hatte. Sie hatte es von Herzen genossen, wie Perdita und Lucas miteinander rangen, dass die Fetzen flogen, und es war ihr jedes Mal aufgefallen, wenn die Sendung geschnitten worden war, um die Zuschauer nicht mit Gewalttaten und anstößigen Worten zu brüskieren.
Und jetzt war sie tot.
Perdita saß auf dem Stuhl, auf dem sie Kitty gefüttert hatte, auf dem sie ihr vorgelesen, mit ihr geschwatzt und im Stillen für sie gebetet hatte. Jetzt wollte sie diese Augenblicke der Ruhe für sich und Kitty haben, bevor der Rest der Welt erfuhr, dass Kitty tot war.
Perdita hatte sich seit Jahren sowohl bewusst als auch unbewusst davor gefürchtet, dass Kitty sterben würde. Jetzt war es passiert, und sie stand allein auf der Welt. Natürlich hatte sie ihre Eltern, und die beiden würden sie unterstützen und gut zu ihr sein, vorausgesetzt, sie war bereit, in einem anderen Teil der Welt zu leben, je nachdem, wo sie sich gerade niederließen. Aber Kitty war immer hier gewesen, beharrlich, beständig, verlässlich. Dies war der Ort, an dem sich Perditas Leben abspielte.
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