Glücksfall
schlank. Er hatte volles Haar, und seine Star qualitäten waren auf große Entfernung erkennbar. Eher wäre er mit einem Wasserflugzeug in Mercy Close gelandet, als mit einem fünf Jahre alten Toyota zu kommen. Aber die Fragerei hatte sich gelohnt. Es lohnte sich immer zu fragen.
Eine kurze Pause entstand.
»Das ist alles«, sagte Artie. »Mehr wissen sie nicht.«
»Und was ist mit Wayne?«, fragte ich. »Wo ist er hin?«
»Das ist seine Sache«, sagte Officer Masterson.
»Aber er hat sich untypisch verhalten. Als stünde er unter Stress.«
»Inwiefern?«
»Er hatte sich den Kopf rasiert.«
»Bei den Haaren – das versteht doch jeder.«
»Er hat Kuchen gegessen.«
»Er hat sich den Kopf rasiert? Er hat Kuchen gegessen? Gut, ich setze mich mit dem Polizeiinspektor in Verbindung und sorge dafür, dass es einen Fernsehaufruf gibt.«
»Das nennt man Sarkasmus, oder?«
»Gut erkannt.«
»Er hat geweint.«
»Manchmal weinen Männer. Das ist nicht gegen das Gesetz …«
»Haben Sie eine Ahnung, wie viele Menschen in letzter Zeit verschwunden sind?«, fragte die Polizistin Quigg mich. »Überall im Land kommen Frauen zur Polizei und melden ihren Partner als vermisst. Männer verschwinden, weil sie ihre Hypothek nicht bezahlen können, weil sie die Gehälter ihrer Angestellten nicht bezahlen können. Es ist eine Epidemie .«
»Wayne schuldete keine großen Summen. Er hat seine Rückzahlungen geleistet, seine Kreditkartenrechnungen wa ren bezahlt.«
»Wir haben keinen Grund zu denken, dass er in Gefahr ist.« Masterson und Quigg standen mit einer Unbeholfenheit auf, die ihnen bestimmt an der Polizeiakademie beigebracht worden war. »Und Sie«, sagten die Polizisten und wandten sich Cain und Daisy zu, »Sie können froh sein, dass Sie keine Anzeige bekommen, weil Sie die Zeit der Polizei verschwendet haben.«
Sie hatten außerdem Glück, dass sie keine Anzeige für den Anbau von Cannabis im Garten kassierten. Aber das war anscheinend niemandem aufgefallen.
Wir verließen im Gänsemarsch das Haus. Das dauerte seine Zeit. Masterson und Quigg bestiegen ihr Polizeiauto und fuhren weg. Es drängte mich, Artie anzufassen, aber ich wollte die Grenzen nicht noch mehr verwischen, als ich es bereits getan hatte. »Danke für alles«, sagte ich. »Ich rufe dich an, sobald ich Zeit habe.«
Er schüttelte den Kopf und lachte, halb entrüstet, dann setzte auch er sich ins Auto und fuhr los.
Kein Mann der vielen Worte, dieser Artie.
Als unsere Beziehung anfing, dauerte es Wochen, bevor er mir erzählte, warum er und Vonnie sich getrennt hatten. Jedes Mal wenn ich das Thema anschnitt, zog er sich in ein tiefes Schweigen zurück, aber ich bohrte und bohrte, und irgendwann hatte ich ihn so weit.
Offenbar hatten sie beide sehr viel gearbeitet – Vonnie hatte Häuser verschönert, Artie Steuersünder zur Strecke gebracht –, sodass ihnen kaum Zeit füreinander blieb, und irgendwann begegnete Vonnie einem anderen Mann. Einem Mann, der zehn Jahre jünger war als sie. Er war Designer – darüber hatten sie sich kennengelernt –, aber manchmal legte er auch bei Festivals auf, und dann trug er einen Pork-Pie-Hut im Hipster-Stil. Also wirklich.
Ich hatte ihn ein paarmal gesehen und fand ihn sehr nett; er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor. Ich konnte mir bloß nicht vorstellen, dass man einen wie ihn haben wollte, wenn man einen wie Artie hatte. Er war ein … Leicht gewicht , so könnte man es wohl am besten beschreiben.
Artie hatte vorgeschlagen, zu einer Eheberatung zu gehen, was Vonnie rundweg ablehnte. Sie wusste, was sie wollte. Sie wollte Steffan mit dem Pork-Pie-Hut, und sie wollte nicht mehr verheiratet sein.
»Und wie hast du dich gefühlt?«, wollte ich von Artie wissen.
»Es war …« Er brach ab. Als Polizist musste er genau die richtigen Worte wählen. »Es war vernichtend. Als wir gehei ratet haben, dachte ich, das ist … für immer. Ohne Vonnie, ohne unsere Familie wusste ich gar nicht, wer ich war. Aber ich konnte nichts tun. Ich habe nichts unversucht gelassen, ich wollte, dass sie uns noch eine Chance gibt, aber sie war fest entschlossen. Und am Schluss ging es um die Kinder. Das Wichtigste war, dass es ihnen gut ging.«
»Klingt sehr zivilisiert«, sagte ich. »Ohne Anschreien? Ohne zerbrochenes Geschirr?«
»Doch, mit Anschreien«, gab er zu. »Aber ohne zerbroche nes Geschirr.«
Das passte. Ich würde mich auch nicht trauen, einen von Vonnies Tellern zu zerbrechen. Wenn es nicht ein
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