Glückskekssommer: Roman (German Edition)
die Treppen herunter. Auf einem Treppenabsatz kam mir der Nachbar mit seinem stämmigen Labrador entgegen. Da ich weder Mann noch Hund treten und auch nicht über die Leine stolpern wollte, musste ich einen Sprung zur Seite machen. Leider landete ich unsanft und knickte mit dem rechten Bein heftig um. Ich jaulte vor Schmerz. Der Hund stimmte ein, aber wohl eher aus Mitleid, denn ich hatte ihn bestimmt nicht getreten. Ich humpelte weiter zur U-Bahn. Da beschloss ich, die hohen Schuhe einfach auszuziehen. Nun hinkte ich barfuß. Aber das sah wenigstens nicht so ungeschickt aus.
Vor Karls Station steht Angelika und guckt unruhig auf ihre funkelnde Cartier-Uhr.
»Da bin ich«, sage ich. »Was ist denn los?«
»Ein Glück, dass du da bist«, ruft sie.
Karls Tochter kommt ein Stück auf mich zu, als wollte sie mir um den Hals fallen. Aber dann bremst sie sich, was ich auch in Ordnung finde.
»Mein Vater ist verrückt geworden«, sagt sie verzweifelt. »Er will seine Medikamente nicht mehr nehmen, sondern nach Hause, um zu sterben. Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.«
Sie tut mir richtig leid, wie sie da steht – völlig aufgelöst, mit wirrem Haar und entsetztem Blick. Und sie ist mir auf einmal sehr sympathisch, zeigt ihre Reaktion doch, dass sie ein Mensch ist und nicht nur die coole Anwältin, die nichts aus der Fassung bringen kann.
Ich weiß schon länger, dass dies Karls Wunsch ist. Er hat sich mit seinem Tod abgefunden, seit er wieder ins Krankenhaus musste. Und dass er zu Hause sterben will, bei seinen geliebten Katzen und zwischen all seinen Büchern und Bildern, das kann ich nur zu gut verstehen. Die Ärzte haben grünes Licht für seine Entlassung gegeben. Nur Angelika scheint noch nichts davon zu wissen oder nichts wissen zu wollen. Ich bin unsicher, wie ich jetzt reagieren soll. Sie ist seine Tochter und sollte seine Entscheidung wenn möglich verstehen.
»Wollen wir in die Cafeteria?«, frage ich. »Ein bisschen reden?«
Sie nickt.
Im Café lasse ich mich erleichtert auf einen Stuhl plumpsen. Angelika holt die Getränke.
»Ich habe ihn doch gerade erst zurückbekommen«, sagt sie.
Das ist ihr erster Satz, seit wir gemeinsam am Tisch sitzen. Unablässig rührt sie in ihrer Teetasse, obwohl sich der Zucker schon vor fünf Minuten aufgelöst hat. Ich würde am liebsten meinen schmerzenden Fuß in den Eistee tauchen, der vor mir steht. Leider ist das überaus unschicklich. Also trinke ich in kleinen Schlucken und überlege dabei, was jetzt zu tun ist. Angelika hat sich nach Jahren mit ihrem Vater versöhnt. Jetzt wird sie ihn schon bald wieder verlieren. Ich kann verstehen, dass sie verzweifelt ist.
»Sie sollten seinen Wunsch unterstützen«, sage ich schließlich. »Er hat ein wunderschönes Zuhause. Außerdem ist viel besser, wenn Leon und Luca ihren Opa dort besuchen, als hier im Krankenhaus.«
»Aber er kann doch gesund werden«, sagt sie flehend. »Es gibt gute Medikamente. Man hat schon oft gehört, dass Krebs sich ganz plötzlich wieder zurückbildet.«
»Das wäre wunderbar«, sage ich. Ich wünschte nichts mehr, als dass ein Wunder geschehen würde. »Aber wenn wir ihn zwingen, im Krankenhaus zu bleiben, wird er schneller sterben. Da bin ich sicher.«
»Vielleicht hast du recht«, sagt Angelika seufzend. »Er hat sich noch nie zu etwas zwingen lassen.«
Ich möchte Karls Tochter so gern etwas Tröstliches sagen. »Ich glaube, das Unbeugsame haben Sie von ihm geerbt«, beginne ich. Ich hoffe, dass meine Offenheit kein Fehler ist. Endlich lässt sie von ihrem Tee ab und schaut mich prüfend an. »Sonst wären Sie keine so gute Anwältin«, füge ich noch hinzu.
Ich habe mit Vicki im Internet recherchiert. Angelikas Kanzlei am Kudamm ist hoch angesehen und wird mit richtig prominenten Fällen betraut.
›Und außerdem wären Sie nicht 20 Jahre zerstritten gewesen‹, ergänze ich.
Aber nicht laut, denn das führt uns nicht weiter. Ich glaube, dass Angelika es selbst ahnt. Wo Licht ist, ist auch Schatten und jede Charaktereigenschaft kann Segen und Fluch sein. Das weiß ich nur zu gut.
Ich betaste unter dem Tisch unauffällig meinen Fuß. Er ist dick angeschwollen.
»Wir bringen ihn nach Hause, sobald es geht«, sagt Angelika.
Ich sehe, dass es sie viel Kraft kostet, ihren festen Glauben an die Machbarkeit aller Dinge in diesem Moment aufzugeben. Lächelnd drücke ich ihr die Hand. »Ich denke, das haben Sie richtig entschieden.«
»Das war ich gar nicht. Das war
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