Glücksregeln für den Alltag
Berufen.“
„Ja, das stimmt“, erwiderte der Dalai Lama, „aber wie ich schon sagte, gibt es viele unterschiedliche Menschen in der Welt, und so mag es auch viele verschiedene Arten geben, ein höheres Ziel und einen Sinn in der Arbeit zu finden und auf diese Weise den Job als ,Berufung' zu betrachten, wie Sie es ausdrücken. Und das erhöht dann die Zufriedenheit in der Arbeit. Jemand mag zum Beispiel einen langweiligen Job haben, damit aber seine Familie, seine Kinder, seine alten Eltern ernähren. Dann besteht für diesen Menschen vielleicht in dieser Sorge für den Lebensunterhalt der Familie das höhere Ziel, und wenn er von seiner Arbeit gelangweilt oder mit ihr unzufrieden ist, kann er ganz bewusst reflektieren, dass er für das Glück und das Wohlergehen seiner Familie sorgt, kann sich jedes einzelne Familienmitglied vorstellen und wie die von ihm geleistete Arbeit ihm Nahrung und ein Dach über dem Kopf gibt; ich denke, daraus kann er dann wieder Kraft schöpfen. Ganz gleich, ob er seine Arbeit liebt oder nicht - er hat dennoch ein Ziel. Aber ich glaube, wir haben schon darüber gesprochen, dass eine Arbeit, wenn man sie um nur des Geldes willen tut und kein anderes Ziel damit verbindet, bald langweilig wird und man dann eine andere Arbeit möchte.“
„Aber natürlich gibt es noch die Millionen allein lebender
Menschen, die keine Familie haben, um die sie sich zu kümmern brauchen“, wandte ich ein. „Haben diese Menschen die Möglichkeit, eine höhere Motivation zu kultivieren, die sie sich am Arbeitsplatz immer wieder in Erinnerung rufen können?“
„Das ist kein Problem“, erwiderte der Dalai Lama ohne zu zögern. „Es gibt viele Denkweisen, auf die ein Mensch zurückgreifen kann, um dieses höhere Ziel, die Auswirkung auf das Wohl anderer, zu erkennen.“
„Können Sie ein paar Beispiele dafür geben?“
Der Dalai Lama deutete auf den Kassettenrekorder, der auf dem niedrigen Tischchen vor uns stand.
„Schauen Sie sich diesen Apparat an. Ich vermute, dass mindestens fünftausend Menschen an seiner Herstellung beteiligt waren. Und jeder trug etwas dazu bei; und nun können wir ihn benutzen, um ein Buch zu machen, das für andere Menschen vielleicht hilfreich sein wird. Genauso gibt es viele tausend Menschen, die die Nahrung liefern, die wir essen, und die Kleider, die wir tragen. Ein einzelner Arbeiter, der irgendwo an einem Fließband steht, sieht vielleicht nicht die Zweckdienlichkeit seiner harten Arbeit, aber wenn er ein wenig nachdenkt, kann er den indirekten Nutzen für das Wohl anderer Menschen erkennen, stolz sein auf das, was er tut, und damit das Gefühl von einer eigenen Leistung bekommen. Auf der ganzen Welt bringen arbeitende Menschen anderen Menschen Glück, auch wenn sie selbst das nicht sehen. Ich denke, wenn jemand für eine große Firma arbeitet, dann mag es, oberflächlich betrachtet, oft den Anschein haben, als sei sein Job unwichtig, als habe er als einzelner Arbeitender nicht viel Einfluss auf das Gesamtgeschehen. Aber wenn wir das Ganze eingehender betrachten, geht uns vielleicht auf, dass unsere Arbeit sehr wohl indirekt Wirkungen auf Menschen haben kann, denen wir unter Umständen niemals begegnen. Ich glaube, in bescheidenem Maße können wir durch unsere Arbeit etwas für andere beitragen.
Andere Menschen arbeiten zum Beispiel in der einen oder anderen Weise für die Regierung und sind damit für ihr Land tätig - das ist dann ihr höheres Ziel. Beispielsweise gab es in den fünfziger Jahren viele Chinesen, darunter auch Soldaten, die tatsächlich das Gefühl hatten, sie würden für das Wohl anderer arbeiten, zumindest für das der Partei, und das bedeutete, für das Wohl des Volkes. Sie waren also fest von ihrem Ziel überzeugt, ja sogar bereit, ihr Leben dafür zu opfern. Und es lag ihnen nichts an persönlichen Vorteilen. Und ebenso gibt es in der monastischen Welt viele Mönche, die sich dafür entscheiden, ihr Leben abgeschieden in den Bergen zu verbringen und unter schwierigen Bedingungen und großen Entbehrungen zu leben. Sie haben die Möglichkeit, im Kloster zu bleiben und ein Leben in größerer Bequemlichkeit und Sorglosigkeit zu führen. Aber weil sie ein viel höheres Ziel im Sinn haben, weil es ihr Ziel ist, Befreiung zu erlangen, damit sie allen Wesen besser nützen können, sind sie bereit, die Entbehrungen auf sich zu nehmen. Ich nehme an, dass diese Menschen eine gewisse geistige Befriedigung durch ihre Arbeit erfahren.“
Der Dalai Lama
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