Glut unter der Haut
den T umult hinweg und klatschte in die Hände. »Kinder, gleich läutet die A bendglocke, also rasch alle zu den Hütten, wenn ich bitten darf. W ir haben heute A bend eine Galavorstellung von Mr. Gudjonsen bekommen. Kommt, wir wollen ihm ein ganz besonderes Dankeschön sagen.«
Die Kinder schrien das Dankeschön aus vollem Hals, zumal es eine prima Gelegenheit war, so laut wie möglich zu sein.
Kathleen war wieder hereingekommen, als das Spektakel anhob. Erik gelang es, sich durch das Gedränge einen W eg zu ihr zu bahnen. »Ich möchte Ihnen gern die V ideos von heute zeigen. Die A ufnahmen sind noch nicht geschnitten, aber ich dachte, Sie möchten sich mal ansehen, was ich bis jetzt so aufgenommen habe.«
»Na ja, ich …« Kathleen zögerte. Sie war sich nicht sicher, ob sie mit ihm allein sein wollte.
»Kommen Sie«, drängte er. »Betrachten Sie es als kostenlose Einladung ins Kino.« Er stupste sie sanft an der Schulter.
»Also gut.« Kathleen lachte.
Sie wünschte den übrigen Betreuern und den Harrisons eine gute Nacht. Erik hatte sie zwar eingeladen, ebenfalls zu bleiben, doch B. J. wollte unbedingt die Zehnuhrnachrichten sehen. Die Frauen in der Küche hatten den A bwasch erledigt, während das V ideo gelaufen war, und so waren Erik und Kathleen nun allein.
»Ich lege das erste Band ein«, erklärte Erik. »Machen Sie schon mal das Licht aus. Dann können wir besser sehen.«
Kathleen ging zu dem großen Schalter und löschte das Licht im Speisesaal, der nun nur noch vom diffusen Schein einer kleinen Glühbirne in der Küche aufgehellt wurde.
»Kann’s losgehen?«, fragte Erik lächelnd über die Schulter.
»Ja.«
Er startete das V ideo, und Kathleen nahm an einem der langen T ische Platz. Erik setzte sich neben sie, stützte sich mit den Ellenbogen auf der T ischkante ab und streckte die Beine aus. Kathleen starrte auf ihren bloßen Oberschenkel, nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Sie rückte aber nicht weg.
Sie sahen sich die A ufnahmen an und plauderten schon bald über die Bilder und Stimmungen, die er eingefangen hatte. Kathleen musste lachen, als die Kamera dicht auf Gracies schmutziges, tränenüberströmtes Gesicht zufuhr. Sie war bei ihrem morgendlichen A usflug hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschrammt; eine V erletzung, die sie übertrieben bejammerte.
»O wie grausam, Erik«, tadelte Kathleen, auch wenn sie lachte.
Er kicherte. »Mag sein, aber ich konnte nicht anders. W issen Sie, eines T ages, wenn Gracie älter ist, wird sie keine Zahnspange mehr brauchen und Kontaktlinsen tragen können. Ich wette, dass sie dann alle anderen Mädchen aussticht.« Seine Hand fand den W eg zu Kathleens Schulter.
»Ich hoffe es für Gracie. Sie hat Glück verdient. Ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder kamen bei einem A utounfall ums Leben. Sie musstemonatelang im Krankenhaus liegen, so schwer war sie verletzt. Damals war sie acht Jahre alt, und das ist, so traurig es auch sein mag, oft schon zu alt für eine A doption. Sie wird wahrscheinlich bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr in einem W aisenhaus leben, bis sie, hoffentlich, aufs College gehen kann.«
»Gott, was für ein Jammer.«
Kathleen seufzte. »Ja. Die meisten dieser Kinder sind durch ähnliche Begebenheiten zu W aisen geworden. Manche von ihnen haben zwar noch einen Elternteil, meistens den V ater, aber der kann sich nicht um sie kümmern. Einige sind in einem Heim für ledige Mütter zur W elt gekommen oder haben ihre Eltern in frühester Kindheit verloren. Kleinkinder werden schnell adoptiert.« In diesem A ugenblick füllte Jaimie den Bildschirm aus.
»Jaimie ist eine A usnahme. Sein V ater hat seine Mutter nicht geheiratet. So gab sie Jaimie nach der Geburt zur A doption frei. Doch er konnte nicht vermittelt werden, weil er gemischtrassig ist.«
Erik ließ seine Hand über ihre Schulter zu ihrem Nacken gleiten; es war eine tröstende Geste, die sich zu einer Liebkosung wandelte. »Er liegt Ihnen ganz besonders am Herzen, nicht wahr?«
»Ja. Ich gebe mir Mühe, es mir nicht anmerken zu lassen, aber es stimmt.« Kathleen war froh, dass Erik die Hand wegnehmen musste, um ein neues V ideo einzulegen. Sie musste sich sehr beherrschen, um sich nicht bei ihm anzulehnen.
Er hatte vier zwanzigminütige Bänder aufgenommen; und jedes Mal, wenn er aufstand, um ein neues einzulegen, kehrte er zu seinem Platz zurück und legte Kathleen die Hand in den Nacken, auf den Rücken oder die Schulter. Jedenfalls berührte er sie
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